Julius Tandler

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Anton Hanak: Büste von Julius Tandler.
Daten zur Person
Personenname Tandler, Julius
Abweichende Namensform
Titel Dr. med., Univ.-Prof.
Geschlecht männlich
PageID 22894
GND 118620657
Wikidata
Geburtsdatum 16. Februar 1869
Geburtsort Iglau, Mähren
Sterbedatum 25. August 1936
Sterbeort Moskau
Beruf Politiker, Arzt
Parteizugehörigkeit Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Ereignis
Nachlass/Vorlass
Objektbezug
Quelle Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Gedenktage, Gedenktage-GW
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Letzte Änderung am 6.09.2019 durch WIEN1.lanm08tau
Begräbnisdatum 12. November 1950
Friedhof Urnenhain der Feuerhalle Simmering
Grabstelle Mauer links, Gruppe 1, Nummer 1 A
Ehrengrab ja„ja“ befindet sich nicht in der Liste (historisches Grab, ehrenhalber gewidmetes Grab, Ehrengrab) zulässiger Werte für das Attribut „Ehrengrab“.
Bildname Tandler.jpg
Bildunterschrift Anton Hanak: Büste von Julius Tandler.
  • 9., Beethovengasse 8 (Wohnadresse)
Familiäre Beziehung
Berufliche Beziehung
Beziehung, Bekanntschaft, Freundschaft

  • Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Wien (1914 bis 1917)
  • Abgeordneter zum Wiener Landtag und Mitglied des Wiener Gemeinderates (1919 bis 1934)
  • Stadtrat für Wohlfahrtswesen (22.11.1920 bis 12.02.1934)
  • Unterstaatssekretär im Volksgesundheitsamt (1919 bis 1920)

Julius Tandler, * 16. Februar 1869 Iglau, Mähren (Jihlava, Tschechische Republik), † 25./26. August 1936 Moskau, Anatom, Politiker.

Herkunft und Studium

Julius Tandler (und seine sechs Geschwister) stammten aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater Moritz Tandler, ein jüdischer Kaufmann in Iglau, war in dieser Profession gescheitert; er kam mit der Familie 1871 nach Wien und fand hier eine Stellung als Redaktionsdiener. Julius Tandler musste sich das Geld für sein Gymnasial- und Universitätsstudium selbst verdienen. 1895 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert und arbeitete als Assistent bei Emil Zuckerkandl. 1899 habilitierte er sich, im darauffolgenden Jahr (1900) heiratete er Olga Rosa Antonie Klauber.

Anatom, Eugeniker, Soziallamarckist

Julius Tandler erhielt 1910 den Lehrstuhl für Anatomie an der Universität Wien und bekleidete von 1914 bis 1917 das Amt eines Dekans der Medizinischen Fakultät. Er war einer jener Ärzte, die den Weltruf der Wiener medizinischen Schule mitbegründeten. Die Aufgabe des Arztes sah er nicht nur im Behandeln, sondern auch im Verhindern von Krankheiten. Zudem engagierte sich sehr in sozialen Fragen. Als Wissenschaftler stand Tandler den Ideen von Rudolf Goldscheid sehr nahe der sozialpolitische Maßnahmen im Sinn einer positiven Eugenik menschenökonomisch" begründete. Tandlers Konzept ist als soziallamarckistisch zu bezeichnen. Er ging davon aus, dass während des Lebens erworbene Eigenschaften vererbbar sind. Daher betonte er Gesundheitsprävention besonders bei Kindern und Jugendlichen. Kritisch zu sehen ist sein manchmal in Reden und Publikationen verwendete menschenverachtende Terminologie in dem er von "Minusvarianten" und "Lumpenproletariat" sprach und sich für freiwillige Sterilisation einsetzte, auch wenn er für die Umsetzung seiner Ideen keine medizinischen Zwangsmaßnahmen, sondern eine auf Aufklärung der Bevölkerung − etwa im Bereich der Eheberatung und Familienplanung − basierende "positive Eugenik" vorschlug. In seiner politischen Tätigkeit spielte seine eugenische Grundhaltung allerdings in der Praxis kaum eine Rolle. Vielmehr bestimmte Tandlers von humanistischen Idealen geprägte Gesundheits- und Sozialpolitik sein Wirken. Als ideologischer Vordenker des nationalsozialistischen Rassenwahns kommt Tandler allein darum nicht in Frage, weil er von nationalsozialistischen Rassenhygienikern nicht rezipiert und grundsätzlich abgelehnt wurde.[1] Im Auftrag der Stadt Wien untersuchte eine Kommission zur Prüfung der Wiener Straßennamen in den Jahren 2011 bis 2013 die historische Bedeutung jener Persönlichkeiten, nach denen Wiener Straßen benannt sind, und nahm eine zeithistorische Kontextualisierung vor. Aufgrund der daraus gewonnenen Erkenntnisse zur historischen Einordnung von Julius Tandler wurde der Straßenname als Fall mit Diskussionsbedarf eingeordnet.

Politische Anfänge

Bereits um die Jahrhundertwende dürfte Tandler deklarierter Sozialdemokrat gewesen sein. Er stand mit prominenten Vertretern der Partei wie Ferdinand Hanusch und Franz Schuhmeier in Kontakt. Während des Ersten Weltkrieges machte er sich in einer Audienz bei Kaiser Karl I. für die Gründung eines Ministeriums für Volksgesundheit ein, welches mit 1. Jänner 1918 ins Leben gerufen wurde. 1919 wurde Julius Tandler, der der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörte, in den Wiener Gemeinderat gewählt und in der Regierung von Staatskanzler Karl Renner zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes unter Ferdinand Hanusch bestellt. In dieser Funktion schuf er 1920 das Krankenanstaltengesetz und sicherte damit den österreichischen Krankenhäusern, die bis dahin durch wohltätige Fonds finanziert worden waren, die Übernahme der Kosten durch Bund, Länder und Gemeinden.

Julius Tandler (1925).

Architekt der Gesundheits- und Sozialpolitik im "Roten Wien"

Am 22. November 1920 folgte er einer Berufung als Amtsführender Stadtrat für Wohlfahrtspflege in die Wiener Stadtregierung. Die in der Ersten Republik in seinem Ressort in der Gesundheits-, Fürsorge- und Jugendpolitik erbrachten Leistungen waren beispielgebend und fanden internationales Interesse. Tandler reorganisierte das Jugend- und das Gesundheitsamt mit den Schwerpunkten Jugendfürsorge, Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose (Pavillon im Lainzer Krankenhaus, Baumgartner Höhe) und prophylaktische Gesundheitsfürsorge. Ebenso forcierte er die Schaffung von Kindergärten (darunter viele "Volkskindergärten" mit längeren Öffnungszeiten) und Horten), von Mutterberatungsstellen und Schulzahnkliniken. Die 1925 eröffnete Kinderübernahmestelle war das erste Institut dieser Art in Europa. Das Schloss Wilhelminenberg wurde 1927 als Kinderheim eingerichtet. Im selben Jahr wurde das kostenlose Säuglingswäschepaket bei gleichzeitiger gesundheitlicher Kontrolle der werdenden Mütter eingeführt.

Trotz seiner Betonung der Prävention setzte sich Tandler auch aus humanitären Gründen massiv für "unproduktive" Maßnahmen im Sinn der Altenbetreuung und medizinischer Therapien für Personen im höheren Alter ein die mehr als die Hälfte der budgetären Mittel in seinem Resort verschlangen. Julius Tandler war verantwortlich für den Ausbau des Lainzer Krankenhauses (Sonderabteilungen für Stoffwechselerkrankungen und für Strahlentherapie), die Übernahme privater Kinderspitäler und den Umbau des Brigittaspitals zu einem städtischen Entbindungsheim. Er ließ Volksbäder (beispielsweise das Amalienbad), Sommerbäder und Kinderfreibäder sowie Sportplätze (darunter das Praterstadion) errichten und hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die städtischen Gartenanlagen von 1921 bis 1932 von knapp 2 auf 3,3 Millionen Quadratmeter wuchsen.

Rücktritt, Exil und Tod

1933 folgte Julius Tandler einer wissenschaftlichen Berufung nach China. Als er dort vom Ausbruch der Februarkämpfe 1934 erfuhr, kehrte er sofort nach Wien zurück, wo er vom "Ständestaat"-Regime vorübergehend verhaftet wurde und schließlich sogar seine Professur verlor. Tief verletzt verließ er Österreich, kehrte zunächst nach China zurück und kam dann einer Einladung der Sowjetunion nach, als Berater an der Reform des Gesundheitswesens mitzuwirken. Er starb jedoch an Herzversagen in der Nacht vom 25. zum 26. August 1936 in Moskau, noch bevor er dieses Projekt in Angriff nehmen konnte.

Ehrungen

1950 errichtete man an der Stirnseite des linken Arkadengangs der Feuerhalle Simmering ein gemeinsames Urnendenkmal für Julius Tandler, Robert Danneberg und Hugo Breitner (Abteilung ML, Gruppe 1, Nummer 1A). Gedenktafeln für Julius Tandler wurden 1946 an der Kinderübernahmestelle und 1986 an seinem Wohnhaus Wien 9, Beethovengasse 8, enthüllt. 1949 benannte man den Julius Tandler-Platz nach ihm. Auch das Julius Tandler-Studentenwohnheim in Wien-Döbling, Billrothstraße 19, trägt seinen Namen. Im Arkadenhof der Universität Wien steht eine Büste.

Seit 1960 wird die Julius-Tandler-Medaille an Personen, die sich auf sozialem Gebiet Verdienste erworben haben, vergeben.

Werke (Auswahl)

  • Julius Tandler: Das Kind im Wachsen und Werden. Vortrag in der Jahreshauptversammlung des Vereines Freie Schule. Wien: Verlag des Vereines Freie Schule 1912
  • Julius Tandler: Anatomie des Herzens. Jena: Fischer 1913
  • Julius Tandler: Die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechtscharaktere (gemeinsam mit Siegfried Grosz). Berlin: Springer 1913
  • Julius Tandler: Topographische Anatomie dringlicher Operationen. Berlin: Springer 1916
  • Julius Tandler: Lehrbuch der systematischen Anatomie. 4 Bände. Leipzig: Vogel 1918−1924
  • Julius Tandler: Wohltätigkeit oder Fürsorge? Wien: Verlag der Organisation Wien der Sozialdemokratischen Partei 1925
  • Julius Tandler: Anatomie für Zahnärzte (gemeinsam mit Harry Sicher). Wien / Berlin: Springer 1928
  • Julius Tandler: Wohlfahrtsamt der Stadt Wien und seine Einrichtungen 1921−1931. Wien: Magistrat der Stadt Wien 1931
  • Julius Tandler: Volk in China. Erlebnisse und Erfahrungen. Wien: Thalia 1935

Quellen

  • Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv: Personenmappe Tandler, Julius. 2 Bände [Sign.: TP-051553]

Literatur

  • Peter Schwarz: Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik. Wien: Edition Steinbauer 2017
  • Österreichisches biographisches Lexikon 1815−1950. Hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Band 14: Stulli Luca−Tuma Karel. Wien [u. a.]: Böhlau 2015, S. 194 f.
  • Isabella Ackerl / Friedrich Weissensteiner: Österreichisches Personenlexikon. Wien: Ueberreuter 1992, S. 479
  • Alfred Gisel: Julius Tandler. In: Friedrich Stadler [Hg.]: Vertriebene Vernunft. Band 2: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Wien [u. a.]: Jugend und Volk 1988, S. 815-818
  • Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u. a.]: Jugend und Volk 1988, S. 179, S. 184-187
  • Karl Sablik: Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Eine Biographie. Wien: Schendl 1983
  • Alfred Magaziner: Julius Tandler, berühmter Arzt und Stadtrat. In: Alfred Magaziner: Die Wegbereiter. Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Wien: Volksbuchverlag 1975, S. 148-151
  • Felix Czeike: Wien und seine Bürgermeister. Sieben Jahrhunderte Wiener Stadtgeschichte. Wien / München: Jugend und Volk 1974, S. 406-432
  • Franz Vogel: Tandler Julius. In: Jean Maitron / Georges Haupt [Hg.]: Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier international. Band 1: Autriche. Paris: Éditions Ouvrières 1971, S. 305-306
  • Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u.a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 508-509
  • Alfred Gisel: Julius Tandler. In: Norbert Leser [Hg.]: Werk und Widerhall. Große Gestalten des österreichischen Sozialismus. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1964, S. 409-414
  • Felix Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien in der Ersten Republik (1919−1934). Wien [u. a.]: Jugend und Volk 1959 (Wiener Schriften, 11), S. 149-211, S. 212-270
  • Alfred Goetzl / Ralph Arthur Reynolds: Julius Tandler. A Biography. San Francisco 1944

Links

Einzelnachweise:

  1. Peter Schwarz: Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik. Wien: Edition Steinbauer 2017, S. 185-199.