Atlantiskino
48° 11' 8.52" N, 16° 21' 44.96" E zur Karte im Wien Kulturgut
Das Gebäude in 5., Wiedner Hauptstraße 108, in dem sich ab 1920 das "Atlantis Kino" befand, wurde von Friedrich Kleibl (1856−um 1927) 1811/1812 im späthistorischen Stil erbaut. Das schmale Gebäude, bei dem Kleibl mit unterschiedlichen Stilen, von Historismus und Jugendstil bis hin zum Einsatz "mittelalterlicher“ und "altdeutscher" Stilelemente, experimentierte, gilt heute als das bekannteste Werk des Architekten.
EigentümerInnen bis 1938
Das 1920 durch einen schmalen Gang durch das Gebäude erreichbare Kino befand sich von 1920 an in Besitz der "Atlantis G.m.b.H.", zu dessen Miteigentümerinnen von Beginn an Elsa Löwinger – später Elsa Epstein – gehörte. Die Lizenz lag vorerst beim Wieser'schen Staatsbeamtenspital (1920−1926, Verwaltung: "Gesellschaft zum Goldenen Kreuz"), danach beim "Landesverband der Kriegsinvaliden" (1927−1934) und ab 1934 beim "Österreichischen Kriegsopferverband" (Obmann: Emil Fey), 1938 schließlich bei der Eigentümerin Elsa Epstein selbst.
"Arisierung" des Betriebs und Inhaftierung der Eigentümerin
Bis zum "Anschluss" am 13. März 1938 befand sich das Kino in Besitz von Alfred Epstein und dessen Frau Elsa Epstein-Löwinger, die neben diesem auch das Maria-Theresien-Kino, Löwen Kino, Luna Kino und Astoria Kino sowie das Kolosseum Kino in Linz, insgesamt also nicht weniger als sechs Kinos (beziehungsweise Mehrheitsanteile davon) besaß. Im Falle des Atlantis Kinos leitete Elsa Epstein das Kino selbst, in den anderen Fällen war sie zwar Teilhaberin, aber nicht Inhaberin der jeweiligen Betriebskonzessionen.
Wie aus den Akten deutlich wird, war das Kino zudem von Beginn an zur Hälfte Eigentum von Friederike "Fritzi" Selahettin (verehelichte Biro Bey Schoultawic) und Elsa Epstein. "Die beiden Frauen hatten wegen ihrer nichtarischen Abstammung Verfolgungen durch den Nationalsozialismus zu befürchten, denen sie sich nur durch die Flucht entziehen konnten." (Schreiben von Anwalt Dr. Heinrich Foglar-Deinhardstein an das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung vom 6. September 1947.)
Da Elsa Epstein aufgrund ihrer Anteile an mehreren Wiener Kinos für die Reichsfilmkammer (RFK), Außenstelle Wien, von besonderem Interesse war, drohte in ihrem Falle sogar die Gefahr einer Verhaftung und Deportation. So schrieb der damalige Leiter der Außenstelle Wien der RFK, Dr. Peter Zimmer, am 5. Mai 1938 an die Gestapo im Hotel Métropole am Morzinplatz: "Unter Hinweis auf den beiliegenden Bericht über die Geschäftstätigkeit der Frau Epstein-Löwinger stelle ich den Antrag, [sie] wegen Gefahr der Vermögensverschleppung und Vermögensverschleierung in Schutzhaft zu nehmen." (RFK-Akt "Atlantis Kino") Laut einem mit 22. Juni 1938 datierten Schreiben der GESTAPO befand sie sich zu dieser Zeit in fand und war - wie aus einem Schreiben Elsa Epsteins an ihre Nichte nach Kriegsende hervorgeht - in der Folge für zwölf Wochen inhaftiert.
Epstein und ihrem Mann gelang schließlich die Flucht.
"Das Kino wurde im Jahre 1938 von Wilhelm Lauer arisiert", gegen den mit Kriegsende ein "beim Volksgericht Wien ein Strafverfahren anhängig ist" (Schreiben von Anwalt Dr. Heinrich Foglar-Deinhardstein an das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung vom 6. September 1947). Aus dem Juni 1939 stammt eine Ertragsrechnung des Atlantiskinos für die Zeit von 1. April bis 31. Dezember 1938.
Rückstellungsverfahren 1945–1948
1945 begannen die Verhandlungen um die Restituierung des Besitzes an die überlebenden Nachkommen, wovon eine, Elsa Epstein, die englische Staatsbürgerschaft hatte, jedoch zu diesem Zeitpunkt in Australien lebte, die andere, Friederike Selahettin, in Los Angeles. Eine weitere Verwandte, Alice ("Liesl") Kaufmann, lebte in Wien und trat "als Vertreterin der Frau Elsa Epstein" in die Verhandlungen ein. Ebenso lebte eine weitere Verwandte, die damals 24-jährige Nichte Susanne Epstein-Tscharré, in Wien, die vorerst 1945 mit einer Vollmacht des "Bundes der österreichischen Lichtspieltheater" – jedoch gegen den Willen der beiden ehemaligen Besitzerinnen und ohne deren Vollmacht – die provisorische ("kommissarische") Leitung des Kinos übernahm, um die sie in einem Schreiben vom 15. Juni 1945 angesucht hatte. 1947 sollte ihr auf Wunsch der Eigentümerinnen Karl Frailer als neuer öffentlicher Verwalter folgen, wie aus einem Schreiben von Elsa Epstein von 28. Februar 1947 hervorgeht. Frailer war bereits vor dem Krieg bei Elsa Epstein und deren Mann Geschäftsführer und Prokurist des Löwen und Maria-Theresien-Kinos in Wien gewesen.
In einem ausführlichen Brief an "Susi" (Susanne) Tscharré von 5. März 1947 argumentierte Elsa Epstein ihren Schritt, unter anderem mit Hinweis, dass sie und "Frau Selachettin" die Vollmachten für das Kino übernommen beziehungsweise auf eigenen Wunsch hin an Frailer übergeben hatten. Epstein ging darin auch auf "die Zeit meines schwersten Elends, als Hitler nach Wien kam und ich durch 12 Wochen eingesperrt war", und ihr Flucht ein. Interessant ist ein "Amtsvermerk" des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung aus dem März 1947, in dem von "Steuerhinterziehungen" durch die ehemaligen jüdischen Besitzer gesprochen wird und gegen eine Übergabe der Kinos in die Verwaltung der ehemaligen Eigentümer Stellung genommen wird.
Im Dezember 1947 wurde das Kino – vertreten von den beiden Besitzerinnen (Selahettin wurde dabei vertreten durch Frailer) sowie Susanne Epstein-Tscharré (als kommissarische Leiterin zugleich "Vertreterin" von Wilhelm Lauer) – an den "Kriegsopferverband für Wien, Niederösterreich und Burgenland" gemeinsam mit der "Kiba" Kinobetriebsanstalt Gesellschaft m.b.H. als "Pächter und Programmierer" übergeben. Mit demselben Dokument wurde auch das Maria-Theresien-Kino in die Pacht der Kiba übergeben. Damit traten die einstigen Kinoinhaberinnen nicht mehr in ihren Kinobetrieb ein, sondern die Stadt Wien (Kiba).
Erst am 29. Dezember 1947 folgte die Abberufung Tscharrés und der Eintritt Frailers als öffentlicher Verwalter des von nun an verpachteten Kinos.
In einem Rechtsstreit mit einer Nachbarin im Jahr 1948, bei dem es um die Schließung der Nebeneingänge des Kinos ging, wurde weiterhin der ehemalige "Ariseur" Wilhelm Lauer unter den Vertreterinnen und Vertreter des Kinos genannt (Lauer seinerseits vertreten durch Dr. Heinrich Glaser). Erst im Juni 1948 wurde Lauer, der sich zu diesem Zeitpunkt an einem "unbekannten Aufenthalt" aufhielt, mit einem "Teilerkenntnis" zur Rückstellung des Kinos an den "Liquidator" Karl Frailer aufgefordert. In einer Mitteilung von 12. August 1948 hieß es, Lauer sei mit Teilerkenntnis von 28. Mai 1948 dazu verurteilt worden, "das Atlantis-Kino mit sämtlichen Rechten, der gesamten Einrichtung, allem Zubehör, der Apparatur und den Mietrechten sofort bei Exekution an die 'Atlantis-Kino Ges.m.b.H.' i. L. zurückzustellen".
Am 4. August 1948 hieß es in einem Schreiben der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien an den Magistrat der Stadt Wien: "Mit Rücksicht auf das Teilerkenntnis der Rückstellungskommission vom 28.5.48, wonach dieser Kinobetrieb der Atlantis Ges.m.b.H. zurückzustellen ist, wird der Aufhebung der öffentlichen Verwaltung und der Enthebung des bisherigen öffentlichen Verwalters Herrn Karl Frailer zugestimmt."
1958 wurde noch Elsa Epstein als Eignerin gelistet, 1967 Friederike Selahettin.
Schließung und Nachnutzung der ehemaligen Kinoräume
Nach der Schließung des Kinos im Jahr 1970 waren hier zeitweise eine Diskothek, ein Supermarkt und ein jugoslawischer Boxclub untergebracht. Seit 1995 befindet sich an der Stelle des einstigen Kinos das Theater Scala des 1987 vom österreichischen Regisseur und Theaterleiter Bruno Max gegründeten Ensembles Theater zum Fürchten.
Fassungsraum
Siehe auch: Kino
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A11: 5. Atlantis-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A27 - ÖV - Kino: K7 Atlantis-Lichtspiele
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 471, A3/1: 5. Wiedner Hauptstraße 108 Atlantis-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, A1 – Kinoakten: 11 Atlantis-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fachverband der Lichtspieltheater, A1: 14 - Atlantis-Kino
Literatur
- Werner Michael Schwarz: Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934. Wien: Turia & Kant 1992, S. 216 f.
- Klaus Christian Vögl: Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938–1945. Wien u.a.: Böhlau 2018
- Dagmar Spitznagl: Wien-Margareten. Erfurt: Sutton Verlag 2011 (Reihe Zeitsprünge)
Weblinks
- Website: Theater zum Fürchten [Stand 20.11.2019]
- Website: Architektenlexikon [Stand 20.11.2019]
- Angela Heide: Datenbank KinTheTop [Stand: 20.11.2019]