Der Schneepalast entstand 1927 im aufgelassenen Nordwestbahnhof (2. Bezirk, seit 1900: 20. Bezirk). Eröffnung: 26. November 1927; Genehmigung bis 31. Mai 1928.[1] Der Schneepalast galt für den Winter 1927/1928 als die größte Sehenswürdigkeit Wiens.[2]
Areal und Ausstattung
- Fläche: 4000 Quadratmeter[3]
- 20 Meter hohe Gerüste mit Kokosmatten und künstlichem Schnee
- Rodelbahn mit Rodelaufzug (Die Rodeln wurden "mit Hilfe eines elektrischen Motors zur Höhe hinaufgezogen."[4])
- Skiwiese
- Sprungschanze (Sprünge bis zu 20 Metern)
- Neigungswinkel bis zu 34 Grad (Sprungbahn)[5]
- Beleuchtungsanlagen: 25.000-Watt-Lampen
- Kapazität: bis zu 300 Personen gleichzeitig[6]
- Rauchverbot: Mit Ausnahme des Zuschauerraums galt in der gesamten Anlage ein striktes Rauchverbot.[7]
Der Wiener Schmäh reagierte mit Häme auf die Tatsache, dass im Gebäude des ehemaligen Nordwestbahnhofs eine Winterlandschaft eingerichtet wurde: "Vorläufig ist nur die Bahnhofshalle den Wintertouristen zur Betätigung eingeräumt. Es verlautet aber, daß man die gesamte ehemalige Nordwestbahnstrecke mit künstlichem Schnee zu bestreuen beabsichtige, so daß man auf angenehmste und billigste Art bis Znaim und darüber hinaus gelangen kann. Würde man auch noch die anderen heimischen Bahnlinien auf die gleiche Art ummodeln, so könnte sich tatsächlich der elektrische Betrieb erübrigen. Österreich könnte das Reiseland par excellence werden!"[8]
Öffnungszeiten und Kosten
Skifahren / Ausrüstung
Skier waren im Zuge der Weltausstellung 1873 erstmals nach Wien gekommen, wo Norwegen das neumodische Fortbewegungsmittel vorstellte. In den 1920er-Jahren avancierte der Skisport zu einer beliebten Wettkampfsportart.[10]
Aufgrund der Beschaffenheit des Kunstschnees gab es zeitgenössische Anregungen zur geeigneten Kleidung beim Skifahren: "Norwegerhosen und offene Blusen sind im Interesse des zuschauenden Publikums den skilaufenden Damen besonders empfohlen. Hingegen ist Skilaufen in der Schwimmhose nicht empfehlenswert."[11]
Kunstschnee
"Künftighin wird die Natur im Winter überhaupt nichts mehr zu tun haben."[12] Wintersport ohne Schnee. "Das ist ungefähr so, als ob man beim Schwimmen auf das Wasser verzichten würde."[13]
Viel wurde über den Kunstschnee des Briten Ayscough diskutiert, mit dem die Wiener bis zur Errichtung des Schneepalastes kaum Kontakt hatten. Die zeitgenössischen Printmedien überschlugen sich vor der Eröffnung der Skihalle mit Lobpreisungen über das neue Wundermittel. "[...] gleichgültig, ob draußen die Sonne den wirklichen Schnee zu Lacken schmilzt oder der Regen ihn zu einer schmutzigen Masse verwandelt. Der himmlische Schnee vergeht, aber der künstliche besteht!". Insgesamt wurden 152 Tonnen Kunstschnee in einer chemischen Fabrik in Mossbirnbaum in Niederösterreich hergestellt, in Säcken abgefüllt und in den Schneepalast gebracht. Mit dieser Menge wurden die künstlichen Hänge der ehemaligen Nordwestbahnhofhalle mit einer 10 bis 15 Zentimeter[14] hohen Schicht Schnee versehen und man hatte noch Reserven für den Notfall. Im Schneepalst wurde der Schnee schließlich gestampft, gesiebt, mit "allerlei Chemikalien gemischt und endlich mit einem noch geheimnisvolleren Wasser bespritzt. Und dieses rätselhafte Wasser war es dann auch, welches das große Wunder vollbrachte. Es machte aus der Masse, die zu 65 Prozent aus neutralisierter Soda bestand, Schnee - blendend weiß und rutschig."[15]
Die übrigen 35 Prozent setzen sich aus verschiedenen Chemikalien zusammen. "Der künstlich hergestellte Schnee verursacht keine allzugroßen Kosten [...] und kann, wenn er schmutzig ist, gereinigt werden. [...] Regnet es, ist es umso besser: Der Schnee braucht nicht gewaschen zu werden".[16] Der Kunstschnee ist "so weiß, so weich und so gleitfähig wie der natürliche. [...] Es sieht vor allem tatsächlich wie Schnee aus. Erst wenn man mit dem Gesicht nach vorne stürzt, dann schmeckt es nicht nach Wasser, sondern nach Soda. Dafür wird man nicht naß, und der Nordwestbahnschnee [...] zergeht nicht auf der Haut. Man wird nicht naß. Aber es juckt ein bißchen. Man fällt weich".[17]
Auch zeitgenössische Parodie hat nicht gefehlt: "Flecke in den Kleidern lassen sich im Schneepalast auf die einfachste Art entfernen. Der sogenannte Schnee dort ist doch weiter nichts als Soda, und darauf rutscht man nun einige Male hin und her, um in purer Reinlichkeit zu erstrahlen."[18]
Vorläufer
1926 entstand in London die erste Skihalle der Welt. In Berlin bestand von April bis Juni 1926[19] am Kaiserdamm eine überdachte Sprungschanze und einige Rodelbahnen. Die Halle war 220 Meter lang und 20 Meter hoch. Die Schneeanlage teilte sich die Halle zusammen mit einem Restaurant.[20]
Die Betreiber
Dagfinn Carlsen
Dagfinn[21] Carlsen wird als "schlank, sehnig und blond" beschrieben. Der Norweger war ein geschulter Kaufmann, erfolgreicher Skispringer, Skilehrer und Filmstar. Carlsen war mit einer Wienerin verheiratet und zog nach Wien. Das Ehepaar wohnte in 4., Belvederegasse 6.[22] 1926 hielt Carlsen mit 64 Metern kurzfristig den Weltrekord in Skispringen. Der Winter 1927/28 markiert den Höhepunkt seines Wienaufenthalts. 1929 zog er nach Norwegen zurück.[23]
Laurence Clarke Ayscough
Der Engländer Ayscough gilt als Erfinder des Kunstschnees. Der Diplomat und Schriftsteller war Vater einer passionierten Skifahrerin. Auf ihre Äußerung in einem Hotel in Kitzbühel, dass es das ganze Jahr Schnee geben sollte, meinte ihre Mutter: "Man müsste eben künstlichen Schnee erfinden". Der Legende nach begann der Amateurchemiker Ayscough mit Experimenten. "Ich hatte ein Gefühl, wie es die Alchimisten im Mittelalter gehabt haben müssen, wenn sie glaubten, den Stein der Weisen gefunden zu haben.", gab Mister Ayscough später einem Reporter bekannt. In einem Schlafzimmer im Palasthotel von Engelsberg war es schließlich so weit, die richtige Mischung war geglückt und Asycough hat den ersten künstlichen Schnee erfunden.[24]
Eröffnung und Attentat auf Bürgermeister Karl Seitz
Am Samstag, dem 26. November 1927, wurde die als "1. Permanenter Schneepalast der Welt" beworbene Schneehalle eröffnet. Bundespräsident Michael Hainisch war anwesend. Bürgermeister Karl Seitz hielt eine sehr launige Ansprache über das Skifahren im trockenen Raume und freute sich in seiner Rede über die neue Ertüchtigungsmöglichkeit für die Jugend. Im Anschluss unterhielt sich der Bürgermeister noch länger mit anwesenden Sportlern und Künstlern. Gegen 17:30 Uhr verließ Karl Seitz den Schneepalst und wurde mit dem Auto zum Rathaus gefahren. Bereits nach wenigen Metern fiel ein Schuss auf der Taborstraße. Richard Strebinger, ein fanatischer Frontkämpfer, eröffnete mit einem großen Revolver das Feuer auf den abfahrenden Wagen des Bürgermeisters. Die ersten Schüsse verfehlten ihr Ziel. Der Attentäter lief dem Wagen nach. Seitz ging in Deckung und konnte so einem weiteren Schuss entkommen, der direkt durch das Wagenfenster drang. Anschließend floh Strebinger, der bei der Tat keine Komplizen hatte, und wollte mit der Straßenbahnlinie O fliehen. In der Straßenbahn konnte er von Fahrer und Zugsführer überwältigt werden. Eine aufgebrachte Menge wollte Strebinger auf der Stelle lynchen und ließ sich nur von mittlerweile eingetroffenen Sicherheitsbeamten mit gezogenen Säbeln abhalten.
Karl Seitz traf um 18 Uhr im Rathaus ein und wurde zum überstandenen Attentat beglückwünscht. Hier wurde er auch einvernommen.
Die Schilderung des Attentats aus Sicht des Bürgermeisters ist überliefert: "Ich saß im Fond des Wagens auf der rechten Seite. Der Wagen hatte sich eben erst in Bewegung gesetzt, als ich eine Detonation hörte. Unwillkürlich drehte ich mich nach links um, um durch das Fenster der Rückwand zu sehen, was geschehen sei. Im selben Augenblick hörte ich eine zweite Detonation. Nun war mir klar, daß jemand mit einem Revolver schießt und daß der Anschlag mir gelten müsse. Es erschien mir darum als das Zweckmäßigste, mich sofort auf den Boden des Wagens zu legen. Von dort riß ich die Wagendecke vom Sitz und hielt sie mir mit erhobenen Armen gespannt nach hinten, um eventuell weitere Schüsse abzuwehren oder ihre Wirkung abzuschwächen. Das Ganze spielte sich in wenigen Augenblicken ab. Ein Schuß ging knapp über meinen Kopf hinweg."[25]
Nutzung
Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auf das Attentat. Über die gut besuchte Eröffnung des Schneepalasts wurde ansonsten wenig geschrieben. In einigen Zeitungen kursierten gesundheitliche Bedenken zu dem Kunstschnee mit Sodageschmack im "künstlichen Kitzbühel". Auch die Kleidung würde brüchig werden. Die größte Konkurrenz lag jedoch in der Natur. Schon damals konnten die Wienerinnen und Wiener mit öffentlichen Verkehrsmitteln in nahegelegene Ski- und Rodelgebiete in Neuwaldegg, Hütteldorf oder Pötzleinsdorf fahren. Speziell für Anfängerskikurse wurde im Palast geworben. Man reagierte seitens der Veranstalter auch mit diversen Wettbewerben. Die bis Mai 1928 laufende Lizenz wurde nicht verlängert. Die Geschichte der imposanten Indoor-Skianlage endete so schnell wie sie begann.[26]
2015 eröffnete in der Seestadt Aspern neuerlich eine Schneeerlebniswelt. Die Anlage wurde für den 365-Tage-Betrieb ausgerichtet. Doch auch der 88 Jahre später errichteten Skianlage sollte vorerst keine wesentlich längere Nutzung beschieden sein. Auf der Webseite des Betreibers wird die vorläufige Einstellung des Betriebs erklärt: "Aufgrund von nicht lösbaren Problemen mit dem Grundstückseigentümer sowie massiven Qualitätsproblemen mit dem Mattenhersteller war eine Weiterführung derzeit nicht möglich!"[27]
Weblinks
- Brigittenau: Geschichte des Areals um den Nordwestbahnhof Stand: 11.1.2017
- Austria Forum: Schneepalast Stand: 11.1.2017
- Wiener Zeitung Stand: 19.1.2017
- Schneeerlebniswelt Aspern Stand: 17. Jänner 2017
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Topographische Sammlung, A1/14 - N: Nordwestbahnhof
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen, A11 - Vr-Strafakten 7822/1927 (Strebinger)
- Illustriertes Sportblatt, 11. Juni 1927
- Der Schnee, 11. November 1927
- Vorarlberger Wacht, 29. November 1927
- Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- Kikeriki, 18. Dezember 1927
- Wochenschau, Nr. 6 / 9.2.1986
- Die Presse, 24. April 2015
Literatur
- Petra Mayrhofer / Agnes Meisinger: Wintersport in Österreichs "alpiner Peripherie" am Beispiel des "Schneepalasts" in der Wiener Nordwestbahnhalle. In: Images des Sports in Österreich. Innensichten und Außenwahrnehmungen. Hg. von Matthias Marschik / Agnes Meisinger / Rudolf Müllner / Johann Skocek / Georg Spitaler. Wien: Vienna University Press 2018, S. 147-160
- Christian Michlits: Wien feiert seinen Schneepalast - doch dann fallen Schüsse in: Die Presse (Print: 26.2.2017, Online: 2.3.2017)
- Wolfgang Kos und Günter Dinhobl: Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt. Wien: Czernin Verlag 2006, Seite 283.
- Christian Brandstätter und Günter Treffer: StadtChronik WIEN. Wien: Verlag Christian Brandstätter 1986, Seite 417.
Einzelnachweise
- ↑ Die Gemeinde Wien hat gegen die Schließung des Nordwestbahnhofs Einspruch erhoben und drängte auf die baldige Wiederinbetriebsetzung. Siehe: Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle M. Abt. 46/24484/1927
- ↑ Kikeriki, 18. Dezember 1927
- ↑ Christian Brandstätter und Günter Treffer: StadtChronik WIEN. Wien: Verlag Christian Brandstätter 1986, Seite 417. Laut Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927 waren es 3000 Quadratmeter Fläche.
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- ↑ Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle Polizeidirektion Wien 26421/1927
- ↑ Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle M.Abt.52/2547/1927
- ↑ Kikeriki, 18. Dezember 1927
- ↑ Der Schnee, 11. November 1927
- ↑ Die Presse, 24. April 2015
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 11. Juni 1927
- ↑ Laut Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle sollte die Kunstschneedecke sogar 30 Zentimeter hoch sein.
- ↑ Wochenschau, Nr. 6 / 9.2.1986
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 11. Juni 1927
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 3. Dezember 1927
- ↑ Kikeriki, 18. Dezember 1927
- ↑ Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle M. Abt. 52/A.B.1685/1927
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 11. Juni 1927
- ↑ Die Schreibweise des Vornamens variiert stark: Dagfins, Dagfin, Dagfinn
- ↑ Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A8 - Feuer und Sicherheitspolizei: Theater, Lokale: 33 - Nordwestbahnhofhalle M. Abt. 52/A.B.1685/1927
- ↑ Vgl. Wochenschau, Nr. 6 / 9.2.1986 und Die Presse, 24. April 2015
- ↑ Wochenschau, Nr. 6 / 9.2.1986
- ↑ Vorarlberger Wacht, 29. November 1927
- ↑ Die Presse, 24. April 2015
- ↑ Schneeerlebniswelt Aspern (Stand: 17. Jänner 2017)