Rätebewegung
Rätebewegung, Bewegung der Arbeiter- und Soldatenräte in den Jahren 1918-1924. Die Rätebewegung war ein Produkt des spontanen Strebens der sozialen Unterschichten nach unmittelbarer Teilnahme an allen öffentlichen Angelegenheiten und Ausdruck der massenhaften Mobilisierung, Politisierung und Radikalisierung der Arbeiterschaft in der Endphase des Ersten Weltkriegs. Als Vorbild dienten die "Sowjets" in Russland, die eine neue Art der Willensbildung kennzeichnete: imperatives Mandat, permanente Rechenschaftspflicht der Gewählten gegenüber den Wählern, jederzeitige Abberufbarkeit der Gewählten durch die Wähler, Einheit von Beschlussfassung und Durchführung.
Diese Prinzipien, "Rätesystem" beziehungsweise "Rätedemokratie" genannt, unterschieden sich grundlegend vom parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystem. Die Arbeiter- und Soldatenräte empfanden sich als dessen Gegenpol und als potentieller Ablöser des "bürgerlichen Staats". Die an seine Stelle tretende Alternative, die "Räterepublik", sollte auf der Basis einer sozialisierten Wirtschaft die rätedemokratischen Prinzipien verwirklichen. Das wichtigste Zentrum und die Hochburg der österreichweiten Rätebewegung war von Anfang bis zum Schluss Wien. Erste Keimformen der Rätebewegung, die "Fabriksausschüsse", entstanden bereits im Frühjahr 1917, als eine Streikwelle die großen Rüstungs- und metallverarbeitenden Betriebe Wiens und des Wiener Beckens erfasste. Während des Jännerstreiks 1918 wurde auf Massenversammlungen der Arbeiter der "Wiener Zentral-Arbeiterrat" zur Leitung des Ausstands gewählt. Nach dessen Beendigung kam es auf Initiative der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zum Beschluss, den Arbeiterrat zur permanenten Einrichtung zu machen und ihn in vier Industriezentren (Wien, Wiener Neustadt, Neunkirchen, St. Pölten) zu institutionalisieren.
Ende Oktober 1918 bildeten sich in den Mannschaften der in Wien garnisonierten Truppenteile der kaiserlichen Armee Soldatenräte; sie wurden auch im Rahmen der am 3. November 1918 gegründeten "Volkswehr" gewählt und waren in der neuen republikanischen Wehrmacht die eigentlichen Träger der Autorität. Vorsitzender des am 5. Dezember 1918 konstituierten "Vollzugsausschusses der Soldatenräte der Wiener Volkswehr", des de facto ausschlaggebenden Organs der österreichischen Soldatenräte, wurde Hauptmann Josef Frey, ein linker Sozialdemokrat. Im März 1919 erfolgte auf einer Reichskonferenz der österreichischen Arbeiterräte im Arbeiterheim Favoriten eine Reorganisation des Arbeiterrats. Wien war von da an Sitz der wichtigsten und höchsten Rätegremien: des Wiener Kreisarbeiterrats, der "Reichsvertretung der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs" und des die laufenden Geschäfte führenden "Reichsvollzugsausschusses". Vorsitzender aller drei Gremien war Friedrich Adler.
Die Arbeiterräte wurden in den Wiener Gemeindebezirken in drei Wählergruppen gewählt: 1. Groß- und Mittelbetriebe, 2. Klein- und Zwergbetriebe sowie Einzelarbeiter, 3. Arbeitslose und Invalide. Die 22 Wiener Bezirksarbeiterräte (der 21. Gemeindebezirk war in die Bezirksarbeiterräte Floridsdorf und Stadlau geteilt) delegierten ihre Mandatare nach festgelegten Schlüsseln in die nächsthöhere Instanz, den Wiener Kreisarbeiterrat. Nach der Organisationsreform fanden vier allgemeine Wahlgänge statt: im Frühjahr 1919 (Wahlbeteiligung in Wien 500.000 Personen), im Herbst 1919 (325.000), im Herbst 1920 (240.000) und im Sommer 1922 (204.000). Die Zahl der gewählten Wiener Bezirksarbeiterräte schwankte zwischen 7.045 im Frühjahr 1919 und 4.594 im Sommer 1922; der Wiener Kreisarbeiterrat bestand im Schnitt aus 280 Personen. Die Sozialdemokraten erreichten zwischen 88,2 und 92,9 % der Stimmen und Mandate, der Rest entfiel auf die Kommunisten (4,7 bis 10,2 %) und Sozialistische Splittergruppen (jüdische "Poale Zion", Wiener tschechische Sozialdemokraten). Man zählte 78,4 % männliche und 21,6 % weibliche Wählerinnen und Wähler, 74,5 % Arbeiter beziehungsweise 25,5 % Angestellte.
Die Schwerpunkte der Aktivitäten der Arbeiter- und Soldatenräte lagen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet (beispielsweise im Ernährungswesen Aufbringung der Lebensmittel, Kampf gegen den schwarzen Markt, das Schiebertum sowie Wucher und Preistreiberei; Präsenz in den amtlichen "Kriegswucherkommissionen" Wiens, die selbst Revisionen in Wohnungen durchführen sowie unter Beiziehung von Polizeiorganen Waren beschlagnahmen durften [Juni-Oktober 1919 wurden 12.000 Exekutionen in Wien durchgeführt]). Exekutive Befugnisse hatten die Arbeiterräte auch im Wohnungswesen (beispielsweise bei der staatlich geregelten "Wohnungsanforderung"); sie setzten sich dafür ein, dass Wohnungsbedürftige zwangsweise in leerstehende Zweitwohnungen oder leerstehende Räume von Großwohnungen einquartiert wurden (1919-1925 wurden 44.848 Wohnungen und Räume rechtskräftig Wohnungslosen zugewiesen, überwiegend 1919/1920, als die Rätebewegung auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand). Weitere Tätigkeitsbereiche der Rätebewegung waren die Verkehrs- und Waffenkontrolle sowie das Fürsorge- und Gesundheitswesen.
Ab Frühjahr 1920 ging der Einfluss der Rätebewegung rasch zurück; Ursachen waren das Ende der revolutionären Krise im Gefolge des Sturzes der ungarischen Räterepublik, die Konsolidierung der traditionellen Herrschaftsinstanzen und die Wahrnehmung von Aufgaben der Rätebewegung durch neu geschaffene Institutionen (Betriebsräte, Arbeiterkammern). Das Wehrgesetz vom 18. März 1920 beseitigte die Soldatenräte im nunmehrigen Bundesheer und stellte die uneingeschränkte Kommandogewalt der Offiziere wieder her. Der Arbeiterrat wurde nach dem Ausscheiden der Kommunisten im Frühjahr 1922 zu einer rein sozialdemokratischen Organisation und hatte lediglich die Aufgabe, eine reibungslose sachliche wie personelle Überleitung in den "Republikanischen Schutzbund" zu gewährleisten. Als das geschehen war, löste sich der Arbeiterrat in ganz Österreich am 31. Dezember 1924 auf; damit verschwanden zwei Institutionen, die in den Anfangsjahren der Ersten Republik und insbesondere in Wien die bedeutendste Basisbewegung und schlagkräftigste Massenorganisation verkörpert hatten.
Literatur
- Hans Hautmann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918-1924. Wien [u.a.]: Europa-Verlag 1987
- Hans Hautmann: Rätedemokratie in Österreich 1918-1924. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1 (1972)
- Rolf Reventlow: Zwischen Alliierten und Bolschewiken. Arbeiterräte in Österreich 1918 bis 1923. Wien: Europa-Verlag 1969
- Eike Haug: Das Rätesystem in Österreich. Diplomarbeit Wirtschaftsuniv. Wien. Wien 1975