Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz, * 28. Juni 1950 Baden bei Wien, Schriftstellerin, Regisseurin.
Biografie
Marlene Streeruwitz war neben vier Brüdern die einzige Tochter von Maria und Viktor Wallner (1922–2012); ihr Vater war langjähriger Direktor eines Gymnasiums und Bürgermeister von Baden. Streeruwitz studierte zunächst Jus, dann Slawistik und Kunstgeschichte. Sie heiratete, bekam zwei Töchter und brach das Studium ab. Allerdings hatte ihr das Slawistik-Studium eine frühe Begegnung mit den Schriften der russischen Formalisten ermöglicht, die Streeruwitz' Literaturverständnis mit zentralen Konzepten wie Literarizität und Verfremdung stark beeinflussten.
Nach der Trennung von ihrem Mann widmete sich Streeruwitz dem Schreiben, arbeitete als Redakteurin und veröffentlichte ab 1986 ihre ersten Hörspiele. Es folgten viel gespielte Theaterstücke wie "Waikiki-Beach" oder "New York. New York", die in grotesken Figuren- und Ortskonstellationen gendergeprägte Machtstrukturen freilegen. 1992 wurde sie von der Zeitschrift "theater heute" zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt und avancierte Mitte der 1990er Jahre zur meistgespielten deutschsprachigen Gegenwartsautorin. Ihre intensive Tätigkeit fürs Theater, die auch einige Regiearbeiten umfasst (etwa die Inszenierung von Jean Genets "Elle" 1992 für das Schauspielhaus Wien), dauerte bis 1996 an. Danach konzentrierte sich Streeruwitz auf erzählende und essayistische Prosa.
Ein Großteil ihrer Romane geht den verschiedenen Formen von 'Frauenleben' nach, was meist schon die Titel andeuten ("Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre", "Lisa's Liebe", "Partygirl", "Jessica, 30"). Dabei wolle Streeruwitz, wie Günther A. Höfler hervorhebt, "in ihren Texten nicht, wie die kanonische Literatur, das Außergewöhnliche, Heroische behandeln, sondern das Banale, das Normale, das aber in außergewöhnlicher Form, die eine Poetisierung des Durchschnitts von Frauenlebenswelten ermöglicht" (Dossier 27, S. 205). Die Poetisierung wird – neben der sprachlichen Gestaltung und dem kunstvollen Aufbau der Werke – mittels intertextueller Beziehungsgeflechte hergestellt, die Streeruwitz' Œuvre mit der weltliterarischen Tradition, aber auch mit zeitgenössischer Alltags- und Populärkultur verknüpfen. Der Roman "Jessica, 30" wurde von der Literaturkritik beispielsweise mit Arthur Schnitzlers berühmten Monolognovellen in Verbindung gebracht und sowohl als "Frau Leutnant Gustl" (Evelyne Polt-Heinzl) wie auch als "'Fräulein Else' der 'Generation Golf'" (Nicole Streitler) umschrieben; zugleich strotzt der Text von Anspielungen auf massenmedial vermittelte Ereignisse der Jahrtausendwende.
Ein bemerkenswertes Fiktionalitäts-Experiment führte Streeruwitz mit zwei im Jahr 2014 veröffentlichten Büchern durch. Im ersten Roman "Nachkommen" wird die Protagonistin Nelia Fehn als zwanzigjähriger Shooting-Star der Literaturszene vorgestellt, deren Debütroman es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat. Mit dem zweiten Buch "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland" legte dann "Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn", wie es auf dem Titelblatt heißt, eben diesen fiktionalen Roman im Roman vor. Streeruwitz selbst war der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises übrigens 2011 mit "Die Schmerzmacherin" gelungen. In ihrem Roman "Yseut" (2016) schickt Streeruwitz ihre Titelheldin auf eine abenteuerliche Reise durch Italien, auf der diese sich, mit einer Pistole bewaffnet, durch ein konspiratives Gewirr aus geheimdienstlichen und mafiösen Praktiken kämpfen muss – eine weibliche Emanzipationsgeschichte, mit der sich die Literaturkritik schwergetan hat.
Marlene Streeruwitz bedient sich zur Veröffentlichung ihrer Texte verschiedener Formate und Formen. Anlässlich der Wiederholung der österreichischen Präsidentschaftswahl schrieb sie den "Wahlkampfroman 2016. So wird das Leben". Für diesen als Fortsetzungsroman konzipierten Text stellte sie auf ihrer persönlichen Website wöchentlich ein neues Kapitel online. In der Video-Serie "Frag Marlene. Feministische Gebrauchsanleitungen", deren erste Folge am 10. Mai 2018 gezeigt wurde, thematisiert sie gesellschaftspolitische Fragen vor dem Hintergrund des Programms der im Dezember 2017 gebildeten ÖVP-FPÖ Bundesregierung.
Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen staatlich verordneten Einschränkungen und Verpflichtungen stürzten Streeruwitz in eine persönliche und künstlerische Krise, von der sie in Essays und in ihren Vorlesungen der Joseph-Breitbach-Dozentur an der Universität Koblenz, veröffentlicht unter dem Titel "Geschlecht. Zahl. Fall" (2021), berichtet. Die Bedrückung und Verzweiflung, die Pandemie, Ukraine-Krieg und Klimaproblematik auslösen, gestaltete Streeruwitz in dem - auf ihrer Website in wöchentlichen Fortsetzungen veröffentlichten - Werk "So ist die Welt geworden. Der Covid19 Roman" und distanzierter in dem 2023 erschienenen Roman "Tage im Mai". Diesen beiden Romanen stehen die essayistischen Texte "Handbuch gegen den Krieg" (2022), "Gedankenspiele über die Toleranz" (2023) sowie "Handbuch für die Liebe" (2024) thematisch zur Seite.
Marlene Streeruwitz ist bekannt für ihre zahlreichen kritischen Beiträge zu tagesaktuellen Themen und Ereignissen. Ein vehementes feministisches Engagement – auch und vor allem über das Medium Sprache – ist seit Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit mit dem Namen und dem Werk der Autorin verbunden. Sie ist eine streitbare Gesellschaftskritikerin, die sich der scharfen Beobachtung und Analyse patriarchalisch-kapitalistischer Machtverhältnisse verschrieben und ein feines Sensorium für frauenfeindliche, rassistische und faschistische Untertöne und Tendenzen entwickelt hat.
Die Schriftstellerin lebt in Wien, London und New York.
Werke (Auswahl)
- Marlene Streeruwitz: Waikiki-Beach. Sloane Square. Zwei Stücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (= edition suhrkamp 1786)
- Marlene Streeruwitz: New York. New York. Elysian Park. Zwei Stücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= edition suhrkamp 1800)
- Marlene Streeruwitz: Tolmezzo. Eine symphonische Dichtung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994
- Marlene Streeruwitz: Ocean Drive. Ein Stück. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994
- Marlene Streeruwitz: Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996
- Marlene Streeruwitz: Lisaʼs Liebe. [Roman in drei Folgen.] Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997
- Marlene Streeruwitz: Waikiki-Beach. Und andere Orte. Die Theaterstücke. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Fischer 1999
- Marlene Streeruwitz: Nachwelt. Ein Reisebericht. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 1999
- Marlene Streeruwitz: Majakowskiring. Erzählung. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002 (= Fischer Taschenbuch 15502)
- Marlene Streeruwitz: Partygirl. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002
- Marlene Streeruwitz: Morire in levitate. Novelle. Frankfurt am Main: S. Fischer 2004
- Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. Roman. Drei Kapitel. Frankfurt am Main: S. Fischer 2004
- Marlene Streeruwitz: Der Imbiss zur Säge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005
- Marlene Streeruwitz: Entfernung. 31 Abschnitte. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2006
- Marlene Streeruwitz: Kreuzungen. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2008
- Marlene Streeruwitz: Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin. Frankfurt am Main: Weissbooks 2008
- Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011
- Marlene Streeruwitz: Ware Mensch. Wien: Verlag der Bibliothek der Provinz – Edition Seidengasse 2013 (Karl-Kraus-Vorlesungen zur Kulturkritik 6)
- Marlene Streeruwitz: Über Bertha von Suttner. Autorinnen feiern Autorinnen. Wien: Mandelbaum Verlag 2014
- Marlene Streeruwitz: Nachkommen. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2014
- Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Frankfurt am Main: S. Fischer 2014
- Marlene Streeruwitz: Poetik. Tübinger und Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2014
- Marlene Streeruwitz: Yseut. Abenteuerroman in 37 Folgen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016
- Marlene Streeruwitz: Das Wundersame in der Unwirtlichkeit. Neue Vorlesungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017
- Marlene Streeruwitz: Flammenwand. Frankfurt am Main: S. Fischer 2019
- Marlene Streeruwitz: So ist die Welt geworden. Der Covid-19-Roman. Wien: bahoe books 2020
- Marlene Streeruwitz: Geschlecht. Zahl. Fall. Vorlesungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2021
- Marlene Streeruwitz: Handbuch gegen den Krieg. Wien: bahoe books 2022
- Marlene Streeruwitz: Gedankenspiele über die Toleranz. Graz / Wien: Literaturverlag Droschl 2023
- Marlene Streeruwitz: Tage im Mai. Roman dialogué. Frankfurt am Main: S. Fischer 2023
- Marlene Streeruwitz: Handbuch für die Liebe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2024
Quelle
Literatur
- Christoph Schröder: Die feindliche Außenwelt. Marlene Streeruwitz: "Tage im Mai". In: www.deutschlandfunk.de, Rezension vom 05.02.2023 [Stand: 07.07.2024]
- Lisa Nimmervoll: Marlene Streeruwitz: "Die Katastrophe ist längst passiert". In: derstandard.at, 10.09.2016 [Stand: 07.07.2024]
- Günther A. Höfler / Gerhard Melzer [Hg.]: Dossier 27. Marlene Streeruwitz. Graz / Wien: Droschl 2008
- Jörg Bong / Roland Spahr / Oliver Vogel [Hg.]: "Aber die Erinnerung davon." Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2007
- Marlene Streeruwitz. Text + Kritik 164 (2004)
- Nicole Katja Streitler: Jessica, 30. Marlene Streeruwitz. In: www.literaturhaus.at, Rezension vom 29.06.2004 [Stand: 07.07.2024]
- Claudia Kramatschek: Marlene Streeruwitz. In: Heinz Ludwig Arnold [Hg.]: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 61. Nachlieferung (1999)
- wien.gv.at: Wiener Frauenpreis an Marlene Streeruwitz [Stand: 07.07.2024]