Schülerbeschreibungen
Ein wichtiges Element der Administration von Schülerinnen und Schülern im österreichischen Schulsystem bildeten die Schülerbeschreibungen. Diese vorgedruckten mehrseitigen Bögen lösten ab dem 7. Juli 1922 in mehreren Funktionsbereichen an den Volks- und Bürgerschulen Wiens den bis dahin gängigen „Katalog über den Schulbesuch und Fortgang der Schüler“ ab. Bereits 1919 wurde ein solcher Bogen entworfen und von der Reformabteilung des Bundesministeriums für Unterricht angeordnet.
Der Einführung dieser Schülerbeschreibungen lag die schulreformerische Idee zugrunde, hinsichtlich der Schülerbeurteilung und des damit verbundenen Ausleseproblems eine breitere und aussagekräftigere Information verfügbar zu machen. Über das Fortsetzen der Schullaufbahn in einer weiterführenden Schule sollten nicht mehr allein Schulnoten ausschlaggebend sein, sondern auch die Informationen über die Leistungsentwicklung im Längsschnitt herangezogen werden können. Die Schülerbeschreibung ist demnach mit dem Schulkind von Klasse zu Klasse und von Schule zu Schule die ganze Schullaufbahn hinweg mitgewandert. Beim Übertritt in eine Bundesmittelschule wurde die Schülerbeschreibung nicht an die Mittelschule weitergegeben, sondern eine kürzer gefasste Schülerbeschreibung ausgefüllt und der Direktion der Mittelschule übermittelt.[1]
Schülerbeschreibung waren äußerst detailliert und sehr umfangreich. Ein Exemplar des Jahres 1937/1938 enthielt beispielsweise folgende vorgedruckte Formularseiten: „Stammblatt“, „Schulleistungen“, Angaben über das „Zustandekommen der Leistungen des Kindes“, „Körperliche Beschaffenheit“, „Anamnese des Arztes“, „Geistige Beschaffenheit“, „Schulbahn- und Berufsberatung“ sowie weitere allgemeine Anmerkungen.
Die Stammdaten zu Beginn der Schülerbeschreibung wurden sehr ausführlich erhoben und enthielten über die üblichen Angaben, betreffend Name, Adresse, Geburtsdatum und Geburtsort, hinaus auch jene über Muttersprache, Glaubensbekenntnis, die elterlichen Berufe, die Anzahl der Geschwister sowie miterziehende Personen wie Großeltern.
Die Seite betreffend die Schulleistungen gab eine Übersicht über die Noten sämtlicher bisher absolvierten Schulstufen. Auf der Seite mit den Angaben über das Zustandekommen der Leistungen wurde auch jeweils der Anteil von „Begabung, Fleiß, Neigung“ und der „häuslichen Verhältnisse“ eigens abgefragt. Was die „körperliche Beschaffenheit“ anlangte, so wurden hier mit zeitlichen Abständen Messergebnisse betreffend Körperlänge, Gewicht und Brustumfang eingetragen; weiters auch Informationen über den Zustand von Haut, Gelenken, Zähnen, Augen, innerer Organe, Gehirn, erfolgter Impfungen und erlittener schwerer Krankheiten. Hier wurden auch Informationen über etwaige Vorerkrankungen sowie das genaue Datum der Erkrankung oder eines Unfalls vermerkt.
Die Formularseite über die „geistige Beschaffenheit“ des Schulkindes war in insgesamt 26 Punkten untergliedert. Darunter fanden sich Fragen betreffend die kognitive Leitungsfähigkeit des Kindes (zum Beispiel Gedächtnisleistung), persönlichkeitspsychologische Merkmale (Erregbarkeit), Sozialverhalten (Stellung in der Gemeinschaft) und sprachliche Ausdrucksfähigkeit.
All diese Informationen wurden vom jeweiligen Klassenlehrer beziehungsweise der Klassenlehrerin in den Schülerbeschreibungsbogen eingetragen. Als eine Art Gegencheck mussten auch die Eltern einen Fragebogen ausfüllen. Die von ihnen beantworteten Fragen nach der „leiblichen Entwicklung des Kindes“, dem „Vorstellungsleben“, dem „Gefühlsleben“ und dem „Willensleben und Handeln“ wurden der Schülerbeschreibung beigelegt.
Auf der vorletzten Seite wurden schließlich etwaig geäußerte Schullaufbahn- bzw. Berufsvorstellungen die Schülerin beziehungsweise den Schüler betreffend von den Eltern, dem Arzt und Erziehern aus der Tagesheimstätte eingetragen. Die allerletzte Seite bot einen Überblick über die besuchten Schulen und Klassenlehrer beziehungsweise -lehrerinnen.
In den Jahren nach 1939 mit der Einführung des deutschen Schulsystems wurden die Schülerbeschreibungen zwar nicht mehr fortgeführt, allerdings ab dem Schuljahr 1948/1949 unter der Bezeichnung „pädagogisch-psychologischer Schülerbeschreibungsbogen (Erziehungsbogen)“ wiedereingeführt. Dieser Bogen beinhaltete einen Stammbogen, die Schüler- und Schülerinnenstammkarte sowie den Erziehungsbogen. Nach Beendigung der Schulpflicht wurde dieser Bogen an der zuletzt besuchten Schule abgelegt. Ab 1973 wurden diese Dokumente an den Schulen jedoch vernichtet.[2] Im Schulunterrichtsgesetz von 1974 (BGBl.139/1974, §79, Abs. 1)[3] finden Schülerbeschreibungsbögen keine Erwähnung mehr und wurden durch § 80 dieses Bundesgesetzes abgeschafft.
In der Retrospektive werden solche Schülerbeschreibungen kontrovers gesehen, da schon ab frühem Alter privateste Aufzeichnungen über eine Einzelperson vermerkt wurden, dadurch ein „gläserner Mensch“ erschaffen wurde. Ein Beispiel hierfür stellt die Regelung dar, nach welcher solche Erziehungsbögen in Ausnahmefällen für Strafgerichtsprozesse herangeführt und somit von ihrem ursprünglichen Zweck losgelöst werden konnten.[4]
Zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Einführung in den 1920er Jahren standen selbst die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den neuen Bögen höchst skeptisch gegenüber, eine Beschnüffelung des Familienlebens wurde befürchtet und die Frage in den Raum geworfen, ob die Lehrenden denn nun Lehrende seien oder doch eher Psychiater und Psychiaterinnen.[5]
Quellen
Einzelnachweise
- ↑ "Schülerbeschreibung" Otto Glöckel: Die Entwicklung des Wiener Schulwesens seit dem Jahr 1919. Wien 1927, S. 34-35.
- ↑ Ernst Bruckmüller (Hg.): Österreich-Lexikon. Band 3. Wien 2004, S. 173.
- ↑ Schulunterrichtsgesetz 1974 (BGBl. 139/1974).
- ↑ Nr. 1355/1973, II-2704 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates.
- ↑ Beschnüffelung des Familienlebens. Die unglaublichen Fragen des Schülerbeschreibungsblattes. Lehrer oder Psychiater? In: Der Nachmittag, 07.11.1922, S. 2.