Wiener städtische Nervenklinik für Kinder (14, Baumgartner Höhe 1)
48° 12' 20.65" N, 16° 16' 11.34" E zur Karte im Wien Kulturgut
Zur Umsetzung des nationalsozialistischen Euthanasiekonzeptes für Kinder ließ der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin ab 1940 so genannte Kinderfachabteilungen unter ärztlicher Leitung in Heilanstalten und Kliniken errichten, die administrativ der staatlichen oder kommunalen Verwaltung unterstanden. Die entsprechende Wiener Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund war anfänglich der "städtischen Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund" eingegliedert und befand sich in den Pavillons 15 und 17. Die Aufnahme in eine Kinderfachabteilung bedeutete gemäß Erlass vom 18. Juni 1940 nach nationalsozialistischer Diktion die „Gewährung öffentlicher Fürsorge zur Behandlung von Kindern mit schwerem angeborenen Leiden“ und bedeutete für hunderte Kinder- und Jugendliche den Tod durch Medikamente und Injektionen. Spätestens ab Juli 1941 verfügte diese Abteilung auch über einen Sonderkindergarten. Die Unterbringung im Sinne des Reichserlasses betraf anfänglich Kleinkinder bis zu drei Jahren, später erhöhte sich die Altersgrenze der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen offiziell auf 16 Jahre, die ältesten Betroffenen waren allerdings schon über 18 Jahre alt. Am 5. März 1942 wurde die städtische Jugendfürsorgeanstalt in „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien – Am Spiegelgrund“ umbenannt und der Hauptabteilung „Jugendwohlfahrt und Jugendpflege“ zugeordnet. Die Pavillons 15 und 17 – organisatorisch beim Gesundheitswesen verbleibend – wurden nach dem Gutachten der Leiterin der Anstalt Dr. Hübsch von Mai 1942 für die Unterbringung der Fälle des Reichsausschusses und der „bildungsunfähigen“ Kinder zur Verfügung gestellt. Am 16. Juni genehmigte der Wiener Bürgermeister Dr. Philipp Jung die Angliederung dieser Pavillons als Kinderabteilung an die Heil- und Pflegeanstalt. Bereits am 7. August 1942 folgte er dem Antrag des Stadtrates Gundel und bestätigte die Selbstständigkeit dieser zwei Pavillons als eigene Anstalt unter ärztlicher Leitung und unter eigener Verwaltung für 220 Betten. Auf Betreiben des neuen kommissarischen Leiters Dr. Ernst Illing (seit 1. Juli 1942) führte sie ab 11. November 1942 die Bezeichnung "Wiener städtische Nervenklinik für Kinder". Die ärztliche Leitung der Jugendfürsorgeanstalt lag 1940 bis Ende 1941 bei Dr. Erwin Jekelius, ab 1940 auch Referent im Hauptgesundheitsamt in Wien. Ihm folgten Dr. Margarethe Hübsch als Leiterin der Kinderabteilung bzw. der Leiter der Heil-und Pflegeanstalt Dr. Hans Bertha bis zur Führung der Kinderfachabteilung als eigene Anstalt im Sommer 1942. Erster Leiter der Säuglings- und Kinderabteilung wurde 1940 Dr. Heinrich Gross, ihm zur Seite standen die Ärztinnen Dr. Marianne Türk und Dr. Helene Jockl. Sowohl der später offiziell eingerückte Heinrich Gross als auch Marianne Türk blieben der Anstalt auch nach Juli 1942 unter ihrem neuen Leiter Dr. Ernst Illing treu und „betreuten“ die Kinder der benachbarten Erziehungsanstalt im Bedarfsfall mit. Von den aus Wien von den Ärzten an den Reichsausschuss gemeldeten Kinder überlebten jene, die als „arbeitsverwendungsfähig“ beurteilt waren, und jene, die von den Eltern abgeholt wurden, bzw. jene, die vom Urlaub nicht zurückkehrten oder entwichen.
1945 löste der amtsführende Stadtrat der Verwaltungsgruppe II die Nervenklinik für Kinder mit sofortiger Wirkung auf und stellte sie der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof zur Errichtung einer Kinder- und Jugendabteilung mit Stichtag vom 1. Juli 1945 zur Verfügung. Die für Forschungszwecke aufbewahrten sterblichen Überreste (Köpfe, Gehirne u.a.) von über 400 Kindern befanden sich in einem Keller der Pathologie der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“, der im Jahre 1988 in einen Gedenkraum umgewidmet wurde. Alle identifizierten sterblichen Überreste von schließlich mehr als 600 Kindern wurden im April 2002 in einem Ehrengrab der Stadt Wien am Zentralfriedhof begraben. Die Beisetzung weiterer Präparate von Spiegelgrundkindern folgte im Mai 2012.
Gegen die an der Ermordung der Kinder beteiligten Ärzte, Ärztinnen und Pfler/innen liefen Strafverfahren vor dem Volksgericht Wien. Dr. Illing wurde zum Tode verurteilt, andere zu Freiheitsstrafen oder freigesprochen. Dr. Heinrich Gross wurde 1948 in der Steiermark verhaftet und 1950 wegen Beihilfe zum Todschlag an Kindern zu zwei Jahren Haft verurteilt, das weiter geführte Verfahren 1951 eingestellt. 1997 wurde wegen neuer Indizien Anklage wegen Beteiligung an Mord erhoben. Das im März 2000 begonnene Verfahren wurde wegen attestierter vaskulärer Demenz vertagt und nicht wieder aufgenommen. Gross starb 2005 in Hollabrunn.
Im V Gebäude des Otto-Wagner-Spitals befindet sich zu diesem Thema eine vom DÖW kuratierte Dauerausstellung: Gedenkstätte Steinhof. Der Krieg gegen die "Minderwertigen". Zur Geschichte der NS Medizin in Wien.
Literatur
- Herwig Czech, Erfassung, Selektion und Ausmerze. Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ 1938 bis 1945 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 41, Wien 2004).
- Mathias Dahl, Endstation Spiegelgrund, Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940 bis 1945. Wien 1998
- Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer [HGG.], NS-Euthanasie in Wien. 2 Teile. Wien/Köln/Weimar 2000 und 2002
- In Memoriam. Ausstellung in Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms aus Anlass des XI. Weltkongresses für Psychiatrie in Hamburg 1999 (Ausstellungskatalog).
- Ernst Klee, Euthanasie im NS Staat, Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt am Main 1983
- Ernst Klee, Dokumente zur Euthanasie. Frankfurt am Main 1985
- United States Holocaust Memorial Museum [Hg], Deadly Medicine. Creating the Master race. Washington 2004
- Brigitte Rigele, Kindereuthanasie in Wien 1940 - 1945, Krankengeschichten als Zeugen. Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Reihe B: Ausstellungskataloge, Heft 71, Wien 2005
- Waltraud Häupl, Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien. Wien 2006