Dritte Walpurgisnacht

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Letzte Änderung am 10.06.2024 durch DYN.astrid hauer

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Entstehung und Verzicht auf die Veröffentlichung

Anfang der 1930er Jahre hatte Karl Kraus eine große Anhängerschaft, die es gewohnt war, dass er in seiner Satirezeitschrift "Die Fackel" umgehend auf politische Ereignisse reagierte. Als am 30. Jänner 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hatten, waren die Erwartungen an Kraus, schnell eine satirische Stellungnahme zu präsentieren, hoch. Doch bis zum ersten "Fackel"-Heft nach der Machtergreifung sollten etwa acht Monate vergehen. Eine ähnlich lange Erscheinungspause hatte es zuvor nur 1915 gegeben, als Kraus intensiv an seinem Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" arbeitete. Der Grund für den Rückzug war ähnlich: Kraus war in Reaktion auf das "Ereignis Hitlers" (DW[1] 23) mit einer großen Arbeit beschäftigt, die unter dem Titel "Dritte Walpurgisnacht" als "Fackel" Nr. 888–905 hätte erscheinen sollen.

Die verlangte "Stellungnahme" zu Hitler und dem Nationalsozialismus zu verfassen, war ihm unmöglich. Stattdessen arbeitete er an dem Versuch, "das Phänomen ins Auge zu fassen, daß das Unmögliche wirklich wurde und wirkender als jemals ein politisches Absurdum" (DW 20), dem Versuch einer sprachlichen Darstellung des Nationalsozialismus und des mit ihm einhergehenden "vollkommene[n] Umsturz[es] im deutschen Sprachbereich" (DW 13).

Der (von der bereits im Frühjahr beginnenden Materialsammlung abgesehen) zwischen Mai und September 1933 entstandene, schließlich etwa 300 Seiten umfassende Essay war bis zur Drucklegung gediehen, als Kraus sich gegen die Veröffentlichung entschied. Die Gründe dafür werden in der Rezeption unterschiedlich stark gewichtet. Der Text ist unter anderem Dokumentation und Analyse und dabei eine scharfe Polemik gegen den Nationalsozialismus und seine Vertreter. Bei einer Veröffentlichung hätte Kraus nicht nur um sein eigenes Leben fürchten müssen, sondern vor allem auch um das seiner LeserInnen und anderer potenzieller Racheopfer. Das Risiko, das mit der Veröffentlichung verbunden gewesen wäre, schien ihm zu hoch angesichts dessen, dass er die sprachliche Verurteilung für unzulänglich hielt und seinem Text nicht die notwendige Wirkung zutraute. Praktische Wirksamkeit hätte die "Dritte Walpurgisnacht" nämlich nur als Hilferuf ins Ausland entfalten können, doch gegen die Möglichkeit einer Verbreitung außerhalb des deutschen Sprachraums sprach für Kraus die mangelnde Übersetzbarkeit des sprachlich hochkomplexen Textes.

Anstelle seines Versuchs, die eigene Sprachlosigkeit angesichts des Nationalsozialismus in Worte zu fassen, veröffentlichte Kraus im Oktober 1933 im "Fackel"-Heft Nr. 888 seinen "Ausdruck des Schweigens"[2] in Form eines zehnzeiligen Gedichtes ohne Titel:

"Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte."[3]

Dem Versuch, seine Bedenken in so verdichteter Form zu kommunizieren, begegneten große Teile der wartenden Leserschaft jedoch mit Unverständnis. (Das Ausmaß lässt sich in "Nachrufen auf Karl Kraus" nachlesen, die dieser in die "Fackel" Nr. 889 aufnahm.) In der "Fackel" Nr. 890–905 aus dem Juli 1934, die den Titel "Warum die Fackel nicht erscheint" trug, wurde Kraus entsprechend expliziter. In diesem Heft druckte Kraus etwa ein Sechstel der "Dritten Walpurgisnacht" ab, der Rest blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht.

Inhalt und Struktur

"Mir fällt zu Hitler nichts ein" (DW 12) lautet der erste Satz der "Dritten Walpurgisnacht". Wie so viele Formulierungen von Kraus ist auch diese im Zusammenhang mit zuvor Gesagtem zu verstehen: "Die Fülle meines Werks ist ungemein, / mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein"[4], lautet ein Aphorismus aus dem Jahr 1925. Hitler allerdings ist nicht satirisch zu "erledigen" wie ein gewöhnlicher Dummkopf. Kraus "fällt nichts ein", das er dem Nationalsozialismus mit Aussicht auf Wirkung entgegenhalten könnte. Die folgenden etwa 300 Seiten belegen jedoch eindrücklich, dass Kraus sehr viel zu Hitler und den Nationalsozialisten zu sagen hatte.

Die Struktur des von Kraus selbst nicht gegliederten Texts, den erst Heinrich Fischer in seiner Ausgabe mit einer Kapiteleinteilung versehen hat, ist schwer zu erfassen. Ein Versuch einer groben thematischen Gliederung in sechs Abschnitte sieht bei Joseph Quack etwa folgendermaßen aus: Der erste enthält eine Selbstrechtfertigung des Satirikers, eine Begründung der Unmöglichkeit, gegen Hitler die geforderte Satire zu schreiben; der zweite befasst sich mit den intellektuellen Kronzeugen der nationalsozialistischen Ideologie; der dritte Teil behandelt die Kriegspropaganda der Nationalsozialisten, die sie zugleich betreiben und leugnen, die Rhetorik Goebbels’ und den nationalsozialistischen Sprachgebrauch insgesamt sowie die Verluste im kulturellen Bereich unter Hitler. Dokumentation – Berichte über die Ausprägungsformen nationalsozialistischer Gewalt u. a. in den Konzentrationslagern – ist Inhalt des vierten Abschnitts; der fünfte Teil unternimmt eine Rechtfertigung der Politik Dollfuß’, der Kraus im Gegensatz zu jener der Sozialdemokraten wirksamen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zutraut. Im letzten Abschnitt versucht Kraus den kulturellen Ursachen des Nationalsozialismus auf den Grund zu gehen.[5] Die verschiedenen Abschnitte sind allerdings nicht scharf voneinander abzugrenzen. Es gibt verschiedene Ebenen der Strukturierung in diesem Text, zu denen auch Leitmotive und assoziative Verknüpfungen, literarische Zitate und Selbstzitate inklusive veränderter Redewendungen zählen. Die Selbstzitate stammen zum Teil aus Kraus' Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" (besonders, was darin entwickelte Gedanken zur Pressekritik betrifft,) und reichen darüber hinaus zurück bis zum ersten Heft der "Fackel", in deren Kontext der Text gelesen werden muss; Kraus bezeichnete die 35 vorangegangenen Jahrgänge als "Vorwort"[6] der "Dritten Walpurgisnacht".

Warum sieht es Kraus als unmöglich an, eine Satire gegen Hitler zu schreiben? Er beobachtet einen "Wettlauf der Satire mit dem Stoff" (DW 31), den diese nicht gewinnen könne, weil die nationalsozialistische Realität jede satirische Überspitzung mühelos überbiete: "Es waltet ein geheimnisvolles Einverständnis zwischen den Dingen, die sind, und ihrem Leugner: autarkisch stellen sie die Satire her, und der Stoff hat so völlig die Form, die ich ihm einst ersehen mußte, um ihn überlieferbar, glaubhaft und doch unglaubhaft zu machen: daß es meiner nicht mehr bedarf und mir zu ihm nichts mehr einfällt." (DW 27)

Zentral ist die von Kraus so bezeichnete "Revindikation des Phraseninhalts" (DW 140), der "Aufbruch der Phrase zur Tat" (DW 141), der ihn an die Grenzen der Sprachkritik bringt: Im alltäglichen Sprachgebrauch längst von ihrer ursprünglichen Bedeutung losgelöste 'Phrasen' bzw. Redewendungen, die auf Bildern der Gewalt beruhen, erhalten diesen Inhalt in Worten und Taten der Nationalsozialisten zurück: Wenn diese davon sprechen, 'mit harter Faust durchzugreifen', 'jemanden an den Pranger zu stellen' oder 'Spießruten laufen zu lassen', selbst wenn sie 'über Leichen gehen', ist es nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen.

Dem Satiriker ist dadurch eines seiner wichtigsten sprachkritischen Mittel genommen: Bisher ließ sich die Blindheit der Sprecher für die Bilder, in denen sie sprachen, satirisch verwerten. Nun sind Kraus' Hinweise auf die Diskrepanz zwischen wörtlich Gesagtem und im übertragenen Sinn Gemeintem hinfällig, weil die metaphorische Bedeutung keine Rolle mehr spielt, sondern die Phrase "in ihre Wirklichkeit zurückgenommen" ist (DW 139). So etwa auch im Fall der Redewendung 'Salz in offene Wunden streuen', die von den Nationalsozialisten zum Zweck der Folter in die Tat umgesetzt wird, anstatt damit etwa eine schmerzhafte Erinnerung zu meinen. Informationen wie diese bezieht Kraus aus der Zeitung, sowohl aus internationalen als auch österreichischen Blättern. Er dokumentiert Gewalttaten der Nationalsozialisten, von denen jeder lesen kann. Die Presse ist so einerseits wichtige Quelle der "Dritten Walpurgisnacht", andererseits steht sie (seit dem ersten Heft der "Fackel" schon) im Fokus von Kraus' Kritik: Sie sorge mit ihrem phrasenreichen Sprachgebrauch für Abstumpfung, die Leserschaft verlerne, sich unter dem Gelesenen etwas vorzustellen. Die Nationalsozialisten würden die durch Zeitungslektüre erworbene Vorstellungsunfähigkeit nutzen: Sie würden – wenn sie nicht gerade lügen – offen zugeben, was sie tun, doch die Menschen seien dennoch imstande, es "nicht zu glauben" (DW 28, 110, 214). Die Ankündigungen brachialer Gewalt klingen wie jene aus der Presse bekannten Phrasen – mit dem Unterschied eben, dass die Nationalsozialisten sie umsetzen.

Mit der Pressekritik eng verbunden ist in der "Dritten Walpurgisnacht" die Kritik an der Sozialdemokratie, an deren Adresse sich der Text richtet. Kraus wirft den Sozialdemokraten vor, sich hinter Phrasen zu verstecken und sich nicht entschlossen genug gegen Hitler zu stellen. Sie würden die tödliche Bedrohung durch den Nationalsozialismus verkennen, wenn sie den Austrofaschismus als ebenso gefährlich bewerteten. Er verteidigt die Politik Dollfuß', dem er ideologisch keineswegs nahesteht, deshalb so vehement und kritisiert die Sozialdemokraten, seine ehemaligen politischen Freunde, deshalb so scharf, weil er als oberstes politisches Ziel die Verhinderung des Anschlusses an den NS-Staat sieht. Dollfuß, bei dem er die entsprechende Entschlossenheit dazu und natürlich die nötige Macht sieht, sei verglichen mit Hitler das "kleinere Übel" und dessen Wahl eine pragmatische Notwendigkeit.


Rezeption

Kraus' ZeitgenossInnen konnten im Juli 1934 nur Ausschnitte aus der "Dritten Walpurgisnacht" lesen, eingebettet in die noch schärfere Kritik an der sozialdemokratischen Politik des "Fackel"-Heftes Nr. 890–905. Sehr viele seiner Anhänger wandten sich aufgrund seiner Parteinahme für Dollfuß – der unmittelbar nach Erscheinen des Heftes ermordet wurde – enttäuscht von Kraus ab.

Der vollständige Text erschien erst posthum, 1952, von Herausgeber Heinrich Fischer um den Artikel ergänzt: "Die dritte Walpurgisnacht". Eine zweite Buchausgabe erschien 1989 bei Suhrkamp, herausgegeben von Christian Wagenknecht mit dem Titel "Dritte Walpurgisnacht".

Aus heutiger Perspektive beweist die "Dritte Walpurgisnacht" mit dem darin gesammelten dokumentarischen Material und Kraus' hellsichtiger Analyse des Hitlertums, dass es keiner Geheiminformationen bedurfte, um schon 1933 sehr genau über Hitlers Politik und die Entwicklungen im NS-Staat Bescheid zu wissen.

Obwohl die "Dritte Walpurgisnacht" als eines der wichtigsten zeitgenössischen Bücher über den Nationalsozialismus gilt, ist nur ihr erster Satz gut bekannt – und auch dieser wird häufig falsch zitiert. Dass es so wenig gelesen wurde und wird, hängt unter anderem damit zusammen, dass die Lektüre zumal für Nachgeborene sehr schwierig ist. Über manche Hürden hilft die Online-Ausgabe der "Dritten Walpurgisnacht" aus dem Jahr 2021 hinweg, die über umfassende Register der Intertexte sowie der vorkommenden Personen und seit 2023 über Stellenkommentar und Zeitleiste verfügt. Die durchsuchbare "Fackel Online" (mit umfangreicher Personendatenbank) hilft, Verweisen innerhalb von Kraus' eigenem Werk nachzugehen.

Die hohe sprachliche Komplexität (die verschlungenen Satzkonstruktionen, die sich über Jahre aufbauenden Konnotationen einzelner Wörter, der wortspielerische Umgang mit Redewendungen etc.) bleibt jedoch bestehen, entsprechend groß sind die Schwierigkeiten, die bei der Übersetzung zu überwinden sind. Dennoch gibt es einige Übertragungen in andere Sprachen: Die "Dritte Walpurgisnacht" wurde 1976 ins Japanische (Satō Yosukiho), 1997 (Pedro Madrigal) und 2010 (Felipe Ricardo Mosquera de Armas) ins Spanische, 2005 ins Französische (Pierre Deshusses), 2008 ins Italienische (Paola Sorge), 2009 ins Tschechische (Hanuš Karlach), 2014 teilweise ins Portugiesische (Renato Zwick, Masterarbeit) und 2020 ins Englische (Edward Timms und Fred Bridgham) übersetzt.


Quellen

  • Karl Kraus 1933: Dritte Walpurgisnacht
  • Christian Wagenknecht [Hg.]: Karl Kraus. Schriften. 20 Bde. in zwei Abteilungen. Bd. 12: Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 (suhrkamp taschenbuch 1322)
  • Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 1913-1936. Bd. 1. München: Kösel 1974, S. 647

Literatur

  • Astrid Hauer: Modifikation von Idiomen in Karl Kraus' "Dritte Walpurgisnacht". Masterarbeit. Universität Wien. Wien 2023
  • Joseph Wälzholz: 'Schweigen'. In: Katharina Prager / Simon Ganahl [Hg.]: Karl Kraus-Handbuch. Heidelberg: J.B. Metzler 2022. S. 59–67
  • Bernhard Oberreither: Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht. Wiener Digitale Revue, Nr. 4 (2022): Wiener Pulp. DOI:10.25365/wdr-04-03-02
  • Richard Schuberth: Karl Kraus. 30 und drei Anstiftungen. Mit einem Nachwort von Thomas Rothschild. Wien: Klever 2016
  • Hanno Biber: "Aufbruch der Phrase zur Tat" – Kommunikationsmaßnahmen und sprachliche Formungen der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich. In: Werner Welzig [Hg.]: "Anschluss". März/April 1938 in Österreich. Wien: Verl. der Österr. Akad. der Wiss. 2010, S. 15–37
  • Irina Djassemy: Der "Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit". Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 399, S. 367–368
  • Kurt Krolop: Bertolt Brecht und Karl Kraus. In: Ders.: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Berlin: Akademie Verlag 21992. S. 252–303
  • Kurt Krolop: "Die Berufung auf Schiller wird zur Gänze abgewiesen" – Schiller-Bezüge der Dritten Walpurgisnacht im Lichte der Fackel. In: Ders.: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Berlin: Akademie Verlag 21992. S. 231–251
  • Jochen Stremmel: "Dritte Walpurgisnacht". Über einen Text von Karl Kraus. Bonn: Bouvier 1982 (Literatur und Wirklichkeit 23)
  • Joseph Quack: Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. Bonn: Bouvier 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 232)
  • Helmut Arntzen: Karl Kraus und die Presse. München: Wilhelm Fink Verlag 1975
  • Helmut Arntzen: Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze. Essays. Glossen. Frankfurt a. M.: Athenäum 1971 (Athenäum Paperbacks Germanistik 5)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. DW = Christian Wagenknecht [Hg.]: Karl Kraus. Schriften. 20 Bde. in zwei Abteilungen. Bd. 12: Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989
  2. Die Fackel Nr. 890–905 (1934), S. 20
  3. Die Fackel Nr. 888 (1933), S. 20
  4. Die Fackel Nr. 697–705 (1925), S. 61
  5. Vgl. Joseph Quack: Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. Bonn: Bouvier 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 232), S. 162
  6. Die Fackel Nr. 890–905 (1934), S. 35