Henriette Willardt
Henriette Willardt, * 9. November 1866 Königsberg (Preußen; heute: Kaliningrad, Russland), † 15. April 1923 Wien, Raubtierbändigerin, Schaustellerin
Biografie
Henriette Willardt wurde als Tochter reisender Schausteller geboren. Sie wuchs in einem steirischen Mädcheninternat auf und besuchte eine Mädchenschule in Bruck an der Mur. Sie zog im Alter von 15 Jahren nach Wien, wo ihre Mutter Emma Willardt im Prater eine erfolgreiche Schaubude mit allerlei Kuriosa betrieb: Zaubertheater, Wandelbilder, Wachsfiguren, "exotische" Menschen, "Riesenmenschen", aber auch ein Wursteltheater. Ihre Tochter wirkte als Kassiererin beim Eintritt. Nach dem Tod des Vaters wurde die Schaubühne zu einem Fotosalon umgestaltet, in dem Fotos vor allen möglichen Szenerien angefertigt werden konnten.
Die Tochter entwickelte besonderes Interesse an der Arbeit mit Tieren. Die Familie erwarb in Hamburg bei einem Tierhändler zwei Berberlöwen, einen Bär und einen Leoparden. Zurück in Wien trainierte Henriette Willardt die Tiere mit "zahmer Dressur", die nur mit Belohnung für Gehorsam arbeitet. Unterstützt wurde sie dabei von Zirkusdirektor Ernst Jakob Renz, der mit der Mutter gut bekannt war. Am 12. Dezember 1883 konnte die junge Frau erstmals unter ihrem Künstlernamen "Miss Senide" – ein Vorschlag von Renz – in Berlin bei einer Vorstellung des gleichnamigen Zirkus auftreten.
Zu Willardts Darbietungen zählte die Arbeit mit Löwen und Bären, die nebeneinander zahlreiche Kunststücke ausführten. So legte ihr ein Löwe vertraulich die Tatzen auf die Schultern und empfing ein Stück Fleisch aus ihrem Mund. Eine andere waghalsige Erfolgsnummer trug den Titel "Le diner africain", bei dem sie einem Panther ein Stück Fleisch wieder aus dem Rachen riss. Unterstützt wurden die waghalsigen Attraktionen durch ihre Adjustierung in knapper Korsage, die eine erotische Komponente in die Auftritte bringen sollten. In den 1880er Jahren tourte sie erfolgreich durch Portugal, Spanien, Frankreich und Belgien.
1886 (nach anderen Angaben: Anfang 1887) erlitt "Miss Senide" in Paris eine schwere Verletzung durch ihren Lieblingslöwen, von dem sie sich lange nicht erholte. Zahlreiche tiefe Narben am Hals waren bleibende Spuren, doch verteidigte sie in den folgenden Jahren ihre Position als einer der spektakulärsten Tierbändigerinnen auf einem sonst von Männern dominierten Sektor. Es folgten weitere Gastreisen und auch weitere berufsbedingte Verletzungen, die sie nicht von ihrer Arbeit mit Wildtieren abbrachte. Als ihre Mutter 1905 schwer erkrankte, übernahm sie die Leitung des Pratergeschäftes, wurde sesshaft und verkaufte ihre Tiere an den Zirkus Hagenbeck. Nach dem Tod der Mutter zwei Jahre später war sie Alleinerbin und somit auch rechtlich Inhaberin der Praterhütte.
Henriette Willbrandt führte das Unternehmen erfolgreich weiter, bis sie 1923 mit 57 Jahren an einem Nierenleiden in ihrer Praterwohnung verstarb. Ihr Ziehsohn Heinrich Günther führte das Unternehmen bis zur Zerstörung der Anlagen 1945 weiter.
Literatur
- Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950. Hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Band 16. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2020, S. 234 f.
- Hertha Kratzer: Alles, was ich wollte, war Freiheit. Außergewöhnliche Österreicherinnen der Moderne. Wien/Graz/Klagenfurt: Styria 2015
- Elisabeth Hewson/Heinz Jankowsky: Praterg’schicht’n. Von Verliebten, Verrückten, Verbrechern und Vergnügten. Wien: Pichler 2008, S. 67 ff.
- Wiener Zeitung online: Die Löwenbändigerin von der Praterbude, 20.06.2013 [Stand: 26.03.2020]
- Wiener Zeitung online: Der Zirkus als Bühne der Emanzipation, 13.09.2012 [Stand: 26.03.2020]
- Clemens Marschall: Mit Courage und Löwenherz. In: Wiener Zeitung online, 07.07.2016 [Stand: 26.03.2020]