Julius Deutsch
Julius Deutsch, * 2. Februar 1884 Lackenbach, † 17. Jänner 1968 Wien, Politiker, Sozialwissenschafter.
Biographie
Herkunft und Bildungsweg
Julius Deutsch, geboren im damals westungarischen Lackenbach, wuchs mit drei Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern führten zunächst ein Wirtshaus in der Heimatgemeinde. Ende der 1880er Jahre übersiedelte die Familie nach Wien, wo sie sich zunächst in Penzing, später in Sechshaus und schließlich in Meidling niederließ. Die Mutter verstarb früh an Tuberkulose, der Vater war nach einem Arbeitsunfall als Kutscher der Omnibusgesellschaft Dötzl Invalide. Nach der Bürgerschule verdingte sich Deutsch zunächst ab 1898 als Lehrling in einer Druckerei, wechselte aber bald in eine Schmuckfedernfabrik in Mariahilf, wo er als Hilfsarbeiter tätig war. Schon zu dieser Zeit begann er sich für die Sozialdemokratie zu engagieren, besuchte Vorträge der Arbeiterbildung und trat dem Verein jugendlicher Arbeiter bei. Gefördert von Viktor Adler legte er extern die Reifeprüfung ab und finanzierte sich als Handelsreisender ein Studium der Staatswissenschaften in Zürich, Wien, Paris und Berlin, das er 1908 in Zürich mit dem Doktortitel abschloss. Deutsch betätigte sich als Sozialwissenschafter und politischer Autor, er veröffentlichte unter anderem Arbeiten über "Die Kinderarbeit und ihre Bekämpfung" (1907) und eine "Geschichte der Österreichischen Gewerkschaftsbewegung" (1908).
Politische Karriere
Ab 1909 war Julius Deutsch im Zentralsekretariat der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) tätig, wo er sich durch sein organisatorisches Talent auszeichnete. 1915 rückte er als Einjährig-Freiwilliger zur k.u.k. Armee ein, wo er hauptsächlich als Artillerie-Beobachter eingesetzt wurde. Seine Erfahrungen als junger Offizier an den Fronten in Südtirol/Trentino, Galizien, den Karnisch-Julischen Alpen und Rumänien hielt er in dem Typoskript "Kriegserlebnisse eines Friedliebenden" fest. Nach weiteren Einsätzen in Weißrussland und am Isonzo wurde Deutsch im Dezember 1917 als sozialpolitischer Referent und Gewerkschaftsvertreter in die Kriegswirtschaftliche Abteilung des Kriegsministeriums beordert. Hier bemühte er sich um den Aufbau einer sozialdemokratischen Vertrauensmännerorganisation in der Wiener Garnison, die später beim Aufbau der deutschösterreichischen Volkswehr eine ausschlaggebende Rolle spielte.
In der Ersten Republik war Deutsch einer der führenden Politiker der Sozialdemokraten (1918 Unterstaatssekretär, 1919-1920 Staatssekretär für Heerwesen, 1919-1934 Abgeordneter zum Nationalrat) sowie Obmann des Republikanischen Schutzbundes (1923-1934). Darüber hinaus war er als Parteisekretär tätig sowie als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur in Österreich (ASKÖ; ab 1926) und Vertreter der Arbeiter-Sport-Internationale (SASI) eine zentrale Figur des österreichischen Arbeitersports. Im Rahmen seiner politischen Tätigkeiten verfasste er zahlreiche programmatische Schriften und Abhandlungen (siehe: Werke).
Wie viele prominente Wiener Sozialdemokraten war Deutsch immer wieder antisemitischen Attacken politischer Gegner ausgesetzt. Deutsch stammte aus einer jüdischen Familie, war jedoch bereits 1905 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten. Im Zuge der Februarereignisse 1934 (er hatte gemeinsam mit Otto Bauer vergeblich versucht, vom Ahornhof (10) aus den Kampf zu organisieren), flüchtete Deutsch in die Tschechoslowakei, wo er mit Bauer das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) aufbaute. Ab 1936 war er im Spanischen Bürgerkrieg aktiv (General der Küstenverteidigung in der Republikanischen Armee), ging danach ins Exil nach Frankreich und emigrierte 1940 in die USA, wo er unter anderem dem sozialdemokratischen "Austrian Labor Committee", dem US-amerikanischen "Office of War Information" (OWI) und der "Free World Association" angehörte. 1946 kehrte er nach Wien zurück, betätigte sich zunächst als "Schattenaußenminister" der SPÖ, dann als Leiter der Verlage der SPÖ, konnte aber politisch langfristig nicht mehr Fuß fassen. Nach Konflikten mit der Parteiführung legte er 1951 alle Funktionen zurück. Er blieb als politischer Autor tätig und veröffentlichte 1960 seine Autobiografie "Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen".
Werke
(Auswahl; ausführliche Bibliographie in: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 7 (1967), H. 4, S. 95 f. bzw. 8 (1968), H. 2, S. 58 f.)
- Die Lehrlingsfrage. Herausgegeben im Auftrage des Reichsverbandes der jugendlichen Arbeiter Österreichs. Wien: Verlag Der jugendliche Arbeiter 1903
- Die Kinderarbeit und ihre Bekämpfung. Zürich: Rascher & Co 1907
- Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. 2 Bände. Div. Aufl. u. Fassungen. Wien: Anton Hueber bzw. Wiener Volksbuchhandlung 1908-1932
- Das moderne Proletariat. Eine sozialpsychologische Studie. Berlin: Georg Reimer 1910
- Aus alten Tagen. Soziale Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachfolger 1911
- Sozialpolitik. Vortragsanleitungen. Wien: Verlag Robert Danneberg 1914
- Geschichte der deutschösterreichischen Arbeiterbewegung. Eine Skizze. Div. Aufl. u. Fassungen. Wien: Verlag Robert Danneberg bzw. Wiener Volksbuchhandlung 1919-1947
- Aus Österreichs Revolution. Militärpolitische Erinnerungen. Wien: Wiener Volksbuchhandlung [1921]
- Die Faschistengefahr. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1923
- Treueid und Revolution. Eine Rede vor Gericht. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1923
- Wer rüstet zum Bürgerkrieg? Neue Beweise für die Rüstungen der Reaktion. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1923
- Schwarzgelbe Verschwörer. Wien: Wiener Volksbuchhandlung/Wiener Sozialdemokratische Bücherei 1925
- Antifaschismus! Proletarische Wahrhaftigkeit im Kampf gegen den Faschismus. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1926
- Wehrmacht und Sozialdemokratie, Berlin: J.H.W. Dietz Nachfolger [1927]
- Sport und Politik. Im Auftrag der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale. Berlin: J.H.W. Dietz Nachfolger 1928
- Der Faschismus in Europa. Eine Übersicht, herausgegeben im Auftrag der Internationalen Kommission zur Abwehr des Faschismus. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1929
- Unter roten Fahnen. Vom Rekord- zum Massensport. Wien: Organisation Wien der Sozialdemokratischen Partei 1931
- Der Bürgerkrieg in Österreich. Eine Darstellung von Mitkämpfern und Augenzeugen. Karlsbad: Graphia 1934
- Putsch oder Revolution? Randbemerkungen über Strategie und Taktik im Bürgerkrieg. Karlsbad: Graphia 1934
- Kontinent in Gärung. Bratislava: Eugen Prager 1935
- Um was geht es in Spanien? Barcelona: Freies Spanien 1937
- Alexander Eifler. Ein Soldat der Freiheit. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1947
- Was wollen die Sozialisten? Mit einem Vorwort von Adolf Schärf. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1949
- Wesen und Wandlung der Diktaturen. Wien: Weg-Verlag Kury & Co 1953; 2. Aufl. München: Humboldt 1963
- Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen. Wien: Amalthea 1960
Quellen
- Meldezettel von Julius Deutsch (WStLA, BPD Wien: Historische Meldeunterlagen, K11)
- Wien Museum Online Sammlung: hochauflösende Abbildungen zu Julius Deutsch
Literatur
- Michaela Maier / Georg Spitaler: Julius Deutsch – "Das innere Kriegserleben" eines Sozialdemokraten. In: Julius Deutsch: Kriegserlebnisse eines Friedliebenden. Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Herausgegeben von Michaela Maier & Georg Spitaler. Wien: new academic press 2016, S. 9 ff.
- Alfred Stalzer: Julius Deutsch. Militärstratege und Gründer des Republikanischen Schutzbundes. In: Marcus S. Patka [Hg.]: Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien: styria premium 2014, S. 229
- Anton Pelinka: Mainstreaming der jüdischen Identität? In: Das jüdische Echo 57/2008, S. 119-123
- Isabella Ackerl / Friedrich Weissensteiner: Österreichisches Personenlexikon der Ersten und Zweiten Republik, Wien: Ueberreuter 1992
- Manfred Marschalek: Der Fall Julius Deutsch. In: Wolfgang Maderthaner [Hg.]: Auf dem Weg zur Macht. Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei. Wien: Löcker 1992, S. 11 ff.
- Manfred Marschalek [Hg.]: Untergrund und Exil. Österreichs Sozialisten zwischen 1934 und 1945. Wien: Löcker 1990
- Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1988, S. 339 f.
- Heinrich Drimmel: Vom Justizpalastbrand zum Februaraufstand. Österreich 1927 - 1934. Wien [u.a.]: Amalthea 1986, S. 345
- Norbert Leser: Grenzgänger. Österreichische Geistesgeschichte in Totenbeschwörungen. Band 2. Wien [u.a.]: Böhlau 1982, S. 25 ff.
- Werner Röder [Hg.]: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. International biographical dictionary of Central European émigrés 1933 – 1945. München: Saur 1980
- Richard Berczeller: Julius Deutsch. In: Norbert Leser / Richard Berczeller: Als Zaungäste der Politik. Österreichische Zeitgeschichte in Konfrontationen. Wien: Jugend und Volk 1977, S. 202 ff.
- Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 8 (1968), H. 1, S. 26 ff.
- Hans Schroth: Bibliographie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Julius Deutsch (II. Teil). In: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 8 (1968), H. 2, S. 58 f.
- Hans Schroth: Bibliographie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Julius Deutsch (I. Teil). In: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 7 (1967), H. 4, S. 95 f.
- Robert Teichl: Österreicher der Gegenwart. Lexikon schöpferischer und schaffender Zeitgenossen. Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1951
- Das Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Biographische Beiträge zur Wiener Zeitgeschichte. Hg. von Franz Planer. Wien: F. Planer 1929