Broschürenflut
Broschürenflut. Abwertender Begriff für die große Menge an Druckschriften geringen Umfangs (nach Norbert Bachleitner 2000 bis 3000 Titel), die in Wien im Zuge der 1781 erfolgten Lockerung der Zensur unter Joseph II. ("erweiterte Preßfreiheit" auf Grundlage der "Grund-Regeln zur Bestimmung einer ordentlichen künftigen Bücher Censur" vom Februar 1781 und der Zensurverordnung vom 11. Juni 1781) bis zu ihrer Verschärfung in den Jahren 1792-1795 erschienen. Schon zeitgenössisch wurden die "Überschwemmung von Broschüren" (Alois Blumauer), das "aus den öden Köpfen selbstgefälliger Müßiggänger [emporgehobene] … Broschürenheer" (Johann Pezzl) kritisch gesehen, zugleich aber die positiven Auswirkungen auf das Leseverhalten hervorgehoben; Zeitschriften wie Friedrich Nicolais "Allgemeine Deutsche Bibliothek" richteten eigene Rubriken zur Rezension der "Wiener Schriften" ein.
Nachdem bereits anlässlich des Tods von Maria Theresia etliche Schriften erschienen waren, gilt als Auftakt der "Broschürenflut" Friedrich Schillings "Über die Begräbnisse in Wien" (1781), wie Joseph Maria Weissegger von Weißeneck "Beyträge zur Schilderung Wiens" (1781) und Joseph Valentin Eybels "Was ist der Pabst?" (1782) eine kirchenkritische Schrift. Den ersten großen Erfolg hatte Johann Rautenstrauch mit "Ueber die Stubenmädchen in Wien", das eine große Fülle von weiteren Publikationen nach sich zog und dem Genre der "Stubenmädchenliteratur" seinen Namen gab. Weitere Genres waren Projektantenschriften, Nonsens-Broschüren, die von Leopold Alois Hoffmann begründeten Predigtkritiken ("Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien", 1782-1784), sowie Publikationen zur Freimaurerei. Ein Abflauen der "Broschürenflut" wurde bereits ab Mitte der 1780er Jahre konstatiert.
Die Publikationen der "erweiterten Preßfreiheit" übten in bis dahin ungewohnter Weise Kritik an den etablierten Einrichtungen, wurden aber auch zur Propaganda im Sinne des Josephinismus instrumentalisiert. Neben der Kirche wurden auch der Adel sowie Joseph II. selbst und nicht zuletzt (ab 1788) sein Krieg gegen das Osmanische Reich zu Zielscheibe von Satire und Polemik. Mit ihren vielfältigen Themen (wie "Ueber die Kaufmannsdiener", "Ueber die Bäcker", "Ueber das Nationaltheater", "Ueber die Kleidertracht", "Ueber die Universität in Wien") galten die Broschüren bereits Blumauer als ein "Repertorium über Wien", zugleich wurde aber ihr Quellenwert in Zweifel gezogen, da sie zumeist weniger mit aufklärerischen als mit kommerziellen Absichten – "blos des Geldes wegen" – von einer binnen wenigen Jahren neu entstandenen Schicht freier Schriftsteller verfasst wurden.
Die Schriften der "erweiterten Preßfreiheit" zählen zu den Sammlungsschwerpunkten der Wienbibliothek im Rathaus, eine Bibliographie hat Ferdinand Wernigg ("Bibliographie österreichischer Drucke während der 'erweiterten Preßfreiheit' 1781-1795", 1973/1979) zusammengestellt.
Literatur
- FWF E-Book-Library: Norbert Bachleitner: Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848. Wien (u. a.): Böhlau 2017
- Ernst Wangermann: Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. Wien/München: Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg 2004
- Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2. Aufl. 1995 [EA 1977], DOI 10.7767/9783205122197, S. 98–100, 117–178
- Kai Kauffmann: "Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994, S. 161–199
- Edith Rosenstrauch-Königsberg: Freimaurerei im josephinischen Wien. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner. (=Wiener Arbeiten zur deutschen Literatur; 6). Wien/Stuttgart: Braumüller 1975, S. 71–75
- Ferdinand Wernigg: Bibliographie österreichischer Drucke während der "erweiterten Preßfreiheit" 1781-1795. 2 Bände. Wien [u.a.]: Jugend und Volk 1973-1979 (Veröffentlichungen aus der Wiener Stadtbibliothek, 4 und 6)(Wiener Schriften, 35 und 41)
- Kurt Strasser: Die Wiener Presse in der josephinischen Zeit Wien: Notring 1962
- Internet Archive: Gustav Gugitz: Die Wiener Stubenmädchenlitteratur von 1781: Ein Beitrag zu Josephinischen Broschüren- und Dienstbotenlitteratur. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 4 (1902/1903), S. 137–150
- Wienbibliothek: Johann Pezzl: Broschüristen, in: Skizze von Wien, 5. Heft, 1788, S. 485-494 (Wiederabdruck: Johann Pezzl: Skizze von Wien Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit. (Hg. von Gustav Gugitz / Anton Schlossar). Graz: Leykam 1923, S. 289–294)
- ÖNB: Alois Blumauer: Beobachtungen über Oesterreichs Aufklärung und Litteratur. Wien: Kurzböck 1782