Hermann Nitsch
Hermann Nitsch, *29. August 1938 Wien, † 18. April 2022, Maler, Aktionskünstler.
Biografie
Hermann Nitsch besuchte von 1948 bis 1956 die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien und schloss diese mit Diplom ab. 1957 übernahm er eine Stelle als Gebrauchsgrafiker am Technischen Museum, wandte sich dann aber der Malerei zu. Im selben Jahr erfolgten erste Konzepte des "Orgien-Mysterien-Theaters", welches ihn von da ab unablässig beschäftigte und in welchem sich alle seine Bestrebungen sammelten.
1961 entstanden seine ersten Schüttbilder und das "1. abreaktionsspiel" (Schrei- und Lärmaktion, Lammausweidung, Lammzerreißung). Nitsch organisierte zusammen mit Otto Muehl und Adolf Frohner zahlreiche Aktionen nach dem Vorbild der Happenings in New York. Gemeinsam verfassten sie 1962 das Manifest "Blutorgel". In diesen Jahren entwickelte er den Kern für sein "Orgien-Mysterien-Theater": Unter Einbeziehung aller Kunstformen (Malerei, Architektur, Musik, Opferritual, Messliturgie etc.) sollten die Sinne der Teilnehmer:innen schrittweise bis aufs Äußerste angespannt werden, um auf dem Höhepunkt eine Erkenntnis des Lebens an sich möglich zu machen.
Nitschs Aktionen, die seit 1962 in Wien in der Öffentlichkeit stattfanden, führten zu ständigen Konfrontationen mit den Behörden, mehreren Prozessen und drei Gefängnisstrafen. 1968 übersiedelte der Künstler nach Deutschland.
Nach großen Erfolgen des "Orgien-Mysterien-Theaters" Ende der 1960er Jahre in Deutschland und den USA führte Nitsch während der 1970er Jahre in vielen europäischen und nordamerikanischen Städten Aktionen durch wie zum Beispiel die 12-Stunden-Aktion im Mercer Arts Center in New York 1972. 1971 kaufte er das niederösterreichische Schloss Prinzendorf aus dem Besitz der Kirche, wo er seitdem lebte und im Zuge größer angelegter Aktionen auch seine Vorstellungen von der Musik zu seinem Theater verwirklichte. Im selben Jahr verfasste Nitsch die Tragödie "eroberung von jerusalem", zu der eine großformatige Kugelschreiberzeichnung entstand. 1973 gründete er den "Verein zur Förderung des O. M. Theaters".
Nitsch deutete das Leben als Passion, den Malprozess als verdichtetes Leben und damit als Inbegriff der Passion. 1982 nahm er an der documenta VII in Kassel teil. Weitere Höhepunkte seines Lebenswerks waren das große "6-Tage-Spiel" im Sommer 1998 unter der Regie von Alfred Gulden sowie das "2-Tages-Spiel" im Sommer 2004, seine 120. Aktion. Eine Ausstellung und Dokumentation des "6-Tage-Spiels" gab es im Mai 1999 im Museum moderner Kunst zu sehen. Konzertante Aufführungen der Musik des "6-Tage-Spiels" waren 1999 im Radiokulturhaus Wien, im Hamburger Bahnhof − Museum für Gegenwart Berlin und in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu hören. 2003 richtete das Haus der Musik Wien die Ausstellung "Hermann Nitsch − Die Musik des 6-Tage-Spieles" aus.
Am 19. November 2005 fand die 122. Aktion des "Orgien-Mysterien-Theaters" im Wiener Burgtheater und damit erstmals in einem staatlichen Theater statt. Die Aktion war Teil der Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum der Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 24. Mai 2007 wurde das Museumszentrum Mistelbach eröffnet, das auf einem Drittel seiner Fläche ein Hermann-Nitsch-Museum beheimatet. Die Stadt Neapel ehrte Nitsch mit einem im September 2008 eröffneten, ausschließlich seinem Werk gewidmeten Museum, dem "Museo Archivio Laboratorio per le Arti Contemporanee Hermann Nitsch", das in einem ehemaligen Elektrizitätswerk eingerichtet wurde. Die Gründung der Nitsch Foundation (2009), die als Ziel die Vermittlung und Dokumentation von Nitschs Schaffen verfolgt, ist eine weitere Demonstration der breiten Anerkennung, die Nitschs Kunst gefunden hat.
Die enge Verwandtschaft seines Mysterientheaters zum Musiktheater führte wiederholt zu Einladungen, in Opernhäusern zu arbeiten. Für die Staatsoper Wien schuf Nitsch 1995 die Ausstattung der Oper "Hérodiade" von Jules Massenet, bei der er auch gemeinsam mit Richard Bletschacher Regie führte. 2001 zeichnete er für die Gesamtausstattung der Oper "Satyagraha" des amerikanischen Komponisten Philip Glass im Festspielhaus St. Pölten verantwortlich. 2005 folgte die Ausstattung zu Igor Strawinskys "Le Renard". Bei der Aufführung von Olivier Messiaens "Saint François d'Assise" an der Bayrischen Staatsoper in München war Nitsch gleichermaßen für Bühne, Kostüme und Regie zuständig.
Weil er durch die Einbeziehung von Opferritualen und liturgischen Elementen in seine blutigen Aktionen nicht nur Tierschützer, sondern auch Theologen und Vertreter der öffentlichen Moral zu Stellungnahmen reizte, war sein Werk in der Öffentlichkeit stark umstritten. Nitsch scheute keine direkte Provokation und schrieb 1962 im "Blutorgel-Manifest": "man soll das burgtheater schließen und die jetzt dafür verwendeten BUNDESMITTEL für die erbauung des o.m. theaters verwenden." Heute hängt das Manifest neben dem monumentalen "Blutorgelbild" im Nitsch-Museum in Mistelbach.
Nitsch hatte zweifellos großen Einfluss auf die österreichische, insbesondere Wiener Kunst- und Kulturszene. Er gilt zu Recht als einer der wichtigsten österreichischen Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der auch international wahrgenommen wurde, was alleine seine Beteiligungen an der Documenta in Kassel (1972, 1982) und an der Biennale (2013; Ausstellung des Staates Kuba im Palazzo Reale; "Personal Structures" im Palazzo Bembo, 1. Juni bis 24. November 2013) belegen. Werke Nitschs sind in zahlreichen öffentlichen Sammlungen im In- und Ausland zu finden, wie etwa dem Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig im MQ Wien (MUMOK), der Albertina Wien, der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz, dem Lentos Kunstmuseum Linz, dem Rupertinum Museum der Moderne in Salzburg, der Sammlung Essl (2003 Retrospektive im Essl-Museum Klosterneuburg), dem Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck, dem Niederösterreichischen Landesmuseum in St. Pölten und dem Museum Moderner Kunst Kärnten. An Sammlungen im Ausland, die Werke Nitschs verzeichnen, seien hier exemplarisch angeführt: Museum of Modern Art, Guggenheim Collection und Metropolitan Museum in New York, Tate Gallery in London, Musée Centre Georges Pompidou in Paris, Museum Ludwig in Köln, das Lenbachhaus in München und die Kunsthalle in Hamburg.
Literatur
- Hubert Klocker [Hg.]: ExistenzFest. Hermann Nitsch und das Theater. Ostfildern: Hatje Cantz 2015 (Ausstellungskatalog des Theatermuseum Wien in Zusammenarbeit mit dem Museum Villa Struck, München)
- Carl Aigner [Hg.]: Hermann Nitsch. Strukturen. Architekturzeichnungen, Partituren und Realisationen des O. M. Theaters. Wien: Brandstätter 2011 (Ausstellungskatalog Leopold Museum Wien)
- Peter Bogner [Hg.]: Nitsch. Vorbilder, Zeitgenossen, Lehre. Wien: Künstlerhaus 2009 (Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien)
- Almuth Spiegler: Die Rolle der Frau im Wiener Aktionismus. Dipl. Arb. Univ. Wien. Wien 2008 [Stand: 12.06.2017]
- Freya Martin: Der Nitsch und seine Freunde. Wien: Styria 2008
- Wieland Schmied: Nicht nur Farbe, sondern auch Blut. Über Hermann Nitsch, vierzehn Versuche aus achtzehn Jahren. Weitra: Publ. P No 1 – Bibliothek der Provinz 2007
- Museumszentrum Mistelbach: Museum Hermann Nitsch. Mithg.: Wolfgang Denk. Ostfildern: Hatje Cantz 2007
- Nitsch. Eine Retrospektive. Klosterneuburg: 2003 (Edition Sammlung Essl)
- Danielle Spera: Hermann Nitsch. Leben und Arbeit. Wien: Brandstätter 2002 [1999]
- Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München: Wilhelm Fink Verlag 2001
- Gerhard Jaschke: Reizwort "Nitsch". Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse. Wien: Sonderzahl Verlag 1994