Irma Karczewska

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Irma Karczewska als junges Mädchen
Daten zur Person

Irma Karczewska, * 30. Jänner 1890 Wien, † 1. Jänner 1933 Wien, Schauspielerin.

Biografie

Herkunft und Jugend

Irma Karczewska wurde als Maria Karczewski in der Hundsturmer Straße in Wien Margareten geboren. Sie war die jüngste Tochter des Stadtträges Eduard Karczewski und seiner Frau Maria – in ihrem Verlassenschaftsakt aus dem Jahr 1933 werden zudem zwei ältere Schwestern – Gisela Heyen, Prokuristenwitwe, damals 48, und Alma Palatzky, Oberkaufmannsratswitwe, damals 43 - als nächste Verwandte genannt.

Um 1905 wurde Karl Kraus auf sie aufmerksam, als sie gerade ein vierzehneinhalbjähriges Mädchen war. Die beiden sollen einander erstmals auf der Straße begegnet sein. Sie erinnerte ihn, wie es der Arzt und Psychotherapeut Fritz Wittels in seinen Memoiren festhielt, äußerlich an die früh verstorbene Schauspielerin Annie Kalmar – Kraus’ erste große Liebe. Aufgrund des Kults, den er um die verstorbene Kalmar trieb, dürfte Kraus – durchaus im Trend der Zeit – dieser Ähnlichkeit hohe, durchaus irrationale Bedeutung zugeschrieben haben.

Kraus holte das junge Mädchen aus ihrem Elternhaus. Er stellte ihr Versorgung und ein Eingehen in die Wiener Kulturgeschichte als "literar historische Persönlichkeit" in Aussicht – so beschrieb es Karczewska später in ihrem "Tagebuch". In der von Kraus produzierten Wiener Erstaufführung der Büchse der Pandora von Frank Wedekind, die aufgrund der Zensur am 29. Mai 1905 nur vor geladenem Publikum im Trianon-Theater im Nestroyhof stattfinden konnte, übernahm sie die Rolle des Liftjungen Bob. Dass sie außerdem 1906 im neu gegründeten "Cabaret Nachtlicht" unter dem Namen Ingrid Loris in der Ballgasse auftrat, ist durch eine lobende Erwähnung durch Kraus in der Ausgabe der "Fackel" vom 12. Mai dokumentiert. Zwischen 1908 und 1912 war Karczewska als "Schauspielerin" in der Mühlgasse 22 im Wiener Adressbuch Lehmann verzeichnet.

Frauenbilder der Wiener Moderne

Von früher Jugend an hatte Karl Kraus dem Theater als demi-monde hohe Bedeutung zugemessen. Er ging zudem von einem "Theater des Lebens" aus, in dem alle nur spielten und in dem paradoxerweise einzig die Theatermenschen wahre, komplette Menschen waren. In diesem Zusammenhang idealisierte er auch Schauspielerinnen als wirkliche Frauen. Schauspielerinnen und Prostituierte waren es, die mit Kraus‘ Männerrunde gegen die bürgerliche Moral der Zeit antreten sollten: "Hier Kämpfer, Künstler, Narr, und dort die Bürger!"[1]

Während die Männer – auf Grundlage der Ideen des jungen Philosophen Otto Weininger – die "Bürde" der genialischen Selbstentfaltung auf sich nahmen und ein Werk schufen, wurde die Frau nur als "Material männlicher Schöpfungslust, als lebendiges Kunstwerk, […] als Multiplikator männlicher Energien" [2] gedacht. Diese scheinwissenschaftliche und misogyne Kategorisierung der Frau war die Antwort auf den Aufschwung und die Sichtbarkeit der Frauenbewegung um 1900, die der junge Kraus unterstützt hatte, bevor er sich dem backlash seiner Zeit anschloss.

Soziale Hierarchien, ökonomische Ungleichheiten und reale Abhängigkeiten wurden von Kraus und seinem Kreis weitgehend ausgeblendet. Auch an die Verletzlichkeit heranwachsender Mädchen, die ab 14 gesetzlich als mündig galten, wurde kaum ein Gedanke verschwendet. Als gesellschaftlich unverformte Hetären sollten sie an der Seite der Lebenskünstler stehen. Die Zurichtung auf dieses Ideal hin wurde keineswegs als Missbrauch, Zumutung und Gefahr für diese sehr jungen Frauen gesehen, die wie alle Zugehörigkeit und verlässliche Bindungen suchten, dafür viel auf sich nahmen und letztlich allein gelassen wurden. In der Kraus’schen Pandora-Inszenierung spielten drei Frauen unter 20 mit, die jeweils mit etwa doppelt so alten Männern liiert waren. Es mag sein, dass sie – wie vielfach entgegengehalten wurde – älter und reifer wirkten und bereits sexuelle Erfahrungen gemacht hatten – nach der Art und Freiwilligkeit dieser Erfahrungen wurde allerdings nie gefragt.

Auf der Bühne des wirklichen Lebens übernahm Karczewska in diesem Sinn für Kraus und seine Freunde Fritz Wittels, Karl Hauer und Erich Mühsam die Rolle des "polygamen Urweibs" oder "Kindweibs", in dem sich der Männertraum ungehemmter Sexualität bar "neurotischer Emanzipation" – wie sie das "Mannweib" kennzeichnete – frei entfalten sollte. Einen gleichnamigen Artikel dazu veröffentlichte Wittels 1907 in der "Fackel". [3] Diese männlichen Fantasien blieben ein einflussreiches und problematisches Erbe der Wiener Moderne, etwa in der Frage des sexuellen Schutzalters von Kindern. Im Nachdenken über die damals vieldiskutierte "sexuelle Frage" standen bei den modernen Denkern die eigenen Interessen und Gesellschaftsvisionen beim Experimentieren mit sexuellen und gesellschaftlichen Freiheiten im Vordergrund und nicht die Vulnerabilität von Kindern und Frauen in einer generationen- und geschlechterhierarchischen Gesellschaft. Karczewskas glamouröse Idealisierung als "Hetäre" einer Wiener Bohème-Clique verbarg – wie bei vielen anderen auch – hochproblematische Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse.

Beziehungen und Ehen

Rund 60 erhaltene Briefe und Karten richtete Kraus, der mit "Hego" unterzeichnete, zwischen 1906 und 1914 an Karczewska, die als "liebstes Irmerl", "liebe Kleine", und später kühler als "L. I." angesprochen wurde. Sie belegen, dass er finanziell tatsächlich die volle Verantwortung übernahm, sich aber sonst seine Freiräume sicherte und höchst interessiert daran war, sie mit anderen Männern zu teilen. Unter diesen waren neben Kraus’ erwähnten Freunden auch mehrere Ehemänner, denn nach dem Scheitern der Schauspielkarriere suchte er Karczewska durch eine bürgerliche Ehe abzusichern. Um 1908 heiratete sie Albertus (Beppo) Haselhoff von Lich, den Eigentümer einer Schokoladenfabrik in Pottenbrunn. 1912 war die Ehe bereits wieder geschieden. Zwei weitere Ehen mit einem Ingenieur namens Friese (1915) und Georg Christoduloff aus Bulgarien folgten. Zwischen und nach diesen Beziehungen blieb Kraus eine zentrale Ansprechperson, obgleich er sich – besonders nachdem er 1913 seiner Lebensliebe Sidonie Nádherný von Borutin begegnet war – zunehmend distanzierte. Kraus’ Briefe zeigen zudem, dass der dreißigjährige Karl mit der adoleszenten Irma vorerst eine Art pygmalionsches Erziehungsprojekt betrieb, zu dem Büchersendungen, Bewertungen ihres Betragens und sonstige Ratschläge gehörten.

Auch von Fritz Wittels sind Briefe an Irma Karczewska überliefert, in denen abseits der bereits angesprochenen Frauenbilder, für die Karczewska eine Projektionsfläche bot, auch Besitzansprüche und Machtverhältnisse einer schwierigen Dreieckskonstellation sichtbar werden. Nicht zuletzt beschrieb Wittels Karczewska in seinen Memoiren, in denen er sie als "Werk" von Kraus bezeichnete. Die Stimme Irma Karczewskas fehlt aus dieser Zeit.

Karczewskas Tagebuch

Wenngleich ihre Briefe aus jungen Jahren nicht vorliegen, meldete sich Karczewska wenige Jahre vor ihrem Tod noch ausführlicher zu Wort. Verarmt und physisch wie psychisch erkrankt füllte sie zwischen dem 8. Oktober 1930 und dem 23. September 1932 ein schmales, blaues Heft mit Erinnerungen und Vorwürfen. Der Text richtet sich an Kraus, der damals nur noch über seinen Anwalt und Freundinnen mit ihr kommunizierte, wiewohl er sie weiterhin finanziell unterstützte. Dieses als "Tagebuch" bezeichnete Heft, das den frivolen Einsatz eines Kindes im Spiel um sexuelle und gesellschaftliche Freiheiten aufzeigt, blieb für Kraus-Fans eine Wunde, die bis heute ungern thematisiert wird. Wie im Falle Paul Gauguins rezent aufgezeigt,[4] ist die Welt der Kunst und Wissenschaft gut darin, die Reputation ihres Kapitals zu schützen. Nun kann man Kraus nicht so getrost und nachweislich als pädophil bezeichnen wie einige seiner Freunde, auch weil Karczewska ein Einzelfall blieb. Entscheidend ist aber, dass Kraus und sein Kreis im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu noch immer nachwirkenden Gesellschaftsvisionen beitrugen, die jungen Frauen die Verantwortung für ihre Sexualisierung zuschoben und sie zwar gegen die Spießbürgermoral, aber doch zum Gefallen der Männer formten. Irma Karczewskas Tagebuch ist eine – aufgrund der Umstände seiner Entstehung – schwierige und doch zentrale Quelle für dunkle und marginalisierte Seiten der gefeierten Wiener Modernen. Auch von Suizid ist darin immer wieder die Rede. Am 1. Jänner 1933 nahm sich Irma Karczewska tatsächlich das Leben – sie verstarb in der Schwindgasse 2 an einer Kohlenoxydgasvergiftung.

Quellen

Literatur

  • Sonja Matter: Das sexuelle Schutzalter. Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950-1990). Göttingen: Wallstein 2022
  • Daniela Strigl: Beziehungen. In: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Katharina Prager / Simon Ganahl. Berlin: J.B. Metzler 2022, S. 41–58
  • Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Zsolnay 2020
  • Daniela Strigl: „“Frauenverehrer“, „Liebessklave“, „Gott und Teufel“. Zu Karl Kraus‘ erotischer Biographie.“ In: Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik. Hg. von Katharina Prager. Wien: Metroverlag / Wienbibliothek im Rathaus 2018, S. 166–181
  • Edward Timms: Das Tagebuch der Irma Karczewska. In: Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik. Hg. von Katharina Prager. Wien: Metroverlag / Wienbibliothek im Rathaus 2018, S. 183–187
  • Hilde Schmölzer: Frauen um Karl Kraus, Wien: Kitab-Verlag 2015
  • Leo A. Lensing: "Freud and the Child Woman" or "The Kraus Affair"? A Textual „Reconstruction“ of Fritz Wittels’s Psychoanalytic Autobiography. German Quarterly 69, 1996, S. 322–332
  • Edward Timms (Hg.): Freud und das Kindweib: Die Memoiren von Fritz Wittels. Aus d. Engl. übers. von Marie-Therese Pitner. Wien [u. a.]: Böhlau 1996 (Geschichte in der Literatur; 37)
  • Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Wien: Deuticke 1995
  • Edward Timms: The "Child-Woman": Kraus, Freud, Wittels, and Irma Karczewska. In: Vienna 1900. From Altenberg to Wittgenstein. Hg. von Edward Timms / Ritchie Edward. Edinburgh 1990, S. 87–107
  • Leo A. Lensing: "Geistige Väter" & "Das Kindweib". Sigmund Freud, Karl Kraus & Irma Karczewska in der Autobiographie von Fritz Wittels. Forum 430/431, 1989, S. 62–71
  • Fritz Wittels(Avicenna): „Das Kindweib“. In: Die Fackel, Nr. 230–231, 15.7.1907, S. 14–33
  • Karl Kraus: „Nachtlicht“. In: Die Fackel, Nr. 203, 12.5.1906, S. 17–23


Irma Karczewska im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.

Weblinks

Referenzen

  1. Karl Kraus, Nach dreißig Jahren (Rückblick der Eitelkeit), in: Die Fackel 810, Juni 1929.
  2. Karl Hauer, Weib und Kultur, in: Die Fackel 213, 11. Dezember 1906.
  3. Fritz Wittels (Avicenna), Das Kindweib, in: Die Fackel 230–231, 15. Juli 1907
  4. Podcast der National Gallery of Australia von Sosefina Fuamoli, The Gaugin Dilemma, 2024