Adolf-Loos-Stadtführung (31. Jänner 1914)
48° 12' 26.83" N, 16° 21' 35.15" E zur Karte im Wien Kulturgut
Route: Dr.-Karl-Renner-RingEs handelt sich um die neunte von zehn Stadtführungen, die Adolf Loos im Rahmen seiner Bauschule zwischen November 1913 und März 1914 veranstaltete.
Transkription der Mitschrift
"Parlament- Im Abgeordnetenhaus ist der Plafond der Galerie bemerkenswert; er ist aus Marmor in Sternform – und sind diese immer Teile eines Kreises, keine einzige gerade Linie drin.- Unter dem Plafond ist der Akustik wegen ein Netz aus gerauhtem Spagat gespannt.- Im Foyer ist die Wandbekleidung Pavonazzo, der Stein wurde gesucht, so lange der Bau währte, die Monolithe sind Salzburger Marmor.- Die Bänke von Hansen gezeichnet, erst im vergangenen Jahre fertiggestellt. Die Gemälde von Schram.-
Die schöne Tischlerarbeit der Türen ist bemerkenswert. – Im Sitzungssaal des Eisenbahnministeriums ist der seltene Fall von Oberlicht und Seitenbeleuchtung zu beachten. Die Wände sind sehr schön in stucco lustro in pompeijanischer Manier – Marmorstaub und Farbe gemalt, dann gebügelt. – Im nächsten Saal ist der Stein aus stucco lustro sehr schön- und in den Buffeträumen sind die Malereien in stucco ganz interessant. Neben dem Herrenhaussaal die schönen kleinen Säulen mit der [dem?] schön vergoldeten Echidan [Echinus?] stehen auf Marmorplatten. Die wunderschöne Haupttreppe. – Die Zwischenwände des Bades sind Beton.“
Kommentar
Die Notiz für die Besichtigung des Parlaments ist gemessen an den Dimensionen des Monumentalgebäudes verhältnismäßig kurz. Die Aufzeichnung enthält keinerlei Äußerungen über die markante Gliederung des Bauwerkes oder die Außenfassaden, sondern konzentriert sich auf Materialdetails und die künstlerische Ausgestaltung ausgewählter Innenräume.
Lauf Aufzeichnung wurden die Säulenhalle, das Abgeordnetenhaus (heute Reichsratssaal) sowie einige kleinere Säle der Belletage besprochen. Ob die genannten Bereiche auch tatsächlich alle betreten werden konnten, ist unklar. Der Termin weicht jedenfalls von den sonstigen immer auf einen Samstag fallenden Terminen ab, was mit der Zugänglichkeit des Gebäudes für Besichtigungszwecke zusammenhängen dürfte.
Das Gros der Aufzeichnung befasst sich mit der Verwendung des Marmors und seines Imitats, des Stucco lustro. Während in den repräsentativen Räumen, den Vestibülen und der Säulenhalle Theophil Hansen ausschließlich echten Marmor einsetzte, den Adolf Loos als Pavonazzo und "Salzburger Marmor" (d. h. Adneter Marmor) ansprach, setzte er in der dekorativen Ausgestaltung kleinerer Räume auf Stuckmarmor, da die auf bloßem Verputz aufgetragene Polychromie wesentlich empfindlicher und schwächer in der Wirkung ist, als jene auf Stucco lustro. Adolf Loos anerkannte hier den Stucco lustro als selbständige und überaus aufwendige Technik, die dem echten Marmor in seiner Wirkung um nichts nachsteht, wenn er gut gemacht ist. In einem kurzen Exkurs verwies Loos auf die antike Herkunft dieser Technik. Wie bereits beim Gebäude der Österreichischen Nationalbank mutmaßte er auch hier den Einfluss der Archäologie auf die dekorative Kunst und sah diesmal Pompeji als Vorbild. Die von Loos bewunderte Stucco lustro-Gestaltung wurde vom k. u. k. Hof- Kunstmarmorierer und Stuckateur Anton Detoma (1820–1895) angefertigt, die ebenfalls angesprochenen Tischlerarbeiten stammten von Hoftischler Heinrich Dübell.
In Zusammenhang mit der Technik des Abgeordnetensaales wies Adolf Loos auf ein bemerkenswertes Detail hin, das später wegen des selbstverständlichen Einsatzes von elektrischer Tontechnik völlig in Vergessenheit geraten ist: Die Parlamentarier hatten seit der Inbetriebnahme der Sitzungssäle mit enorm schlechter Akustik zu kämpfen. Während die Reden vom Podium noch einigermaßen verständlich waren, konnten Wortmeldungen aus den Reihen der Abgeordneten kaum gehört werden. Die Ursache dafür waren die vielen glatten Oberflächen an Wänden und Decken, die einen starken Hall erzeugten. Zur Behebung des Übels wurden seit den 1880er Jahren eine Reihe von Versuchen unternommen, die jedoch nicht die erwünschte Wirkung zeigten und ästhetisch völlig unzulänglich waren, wie etwa die versuchte Abdeckung der Marmorflächen mit dunkelroten Samtteppichen. Zur Zeit von Loos' Exkursion bemühte man sich offenbar, die Akustik durch den Einsatz von Schallabsorbern, die unter der Glasdecke angebracht waren, zu verbessern. Ein Beleg für das aus grobem Spagat oder Garn gefertigte Netz ist bislang außerhalb dieser Notizen zu den Loos-Führungen nicht bekannt.
Theophil Hansen, dessen Werke bei den Exkursionen mehrfach besprochen wurden, stand bei Adolf Loos hoch im Kurs. Die Wertschätzung dieses Paradearchitekten der Ringstraße beweist einmal mehr, dass Loos die städtebauliche Planung der Ringstraße zwar ablehnte, einzelnen Architekten aber sehr wohl seinen Respekt zollte. Auf Hansens Reichsratsgebäude rekurrierte Adolf Loos 1910 in seiner Verteidigung des Hauses am Michaelerplatz. Als Loos vom Wiener Stadtbauamt eine Ornamentierung seiner Fassade vorgeschrieben bekam, bestand dieser darauf, dass das Gerüst abgetragen werde, um die Gesamtwirkung erkennen zu können. Als Stadtbaudirektor Heinrich Goldemund dagegen opponierte, verwies Loos auf Theophil Hansen, der seine Polychromieversuche an der Außenfassade des Parlaments ebenfalls ohne Gerüst präsentierte. Die Ausbildung Hansens bei Karl Friedrich Schinkel, (als dessen "Wiedererwecker" Loos sich übrigens verstand), das jahrelange Studium der antiken Baumonumente in Athen und das Fortführen der klassischen Bautraditionen waren für Loos geradezu ideale Elemente eines Architektenlebens.
Quelle
- Mitschrift zu Stadtführungen im Rahmen der Bauschule Adolf Loos. Wien, 1913-1914 / Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 1442, schriftlicher Teilnachlass Adolf Loos, 1.4.20, Blatt 19
Literatur
- Harald Stühlinger: Adolf Loos als Führer zu Architektur und Städtebau. In: Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente aus der Wienbibliothek im Rathaus. Hg. von Markus Kristan, Sylvia Mattl-Wurm und Gerhard Murauer. Wien: Metroverlag 2018, S. 223 f.
- Burkhardt Rukschcio / Roland Schachel: Adolf Loos. Leben und Werk. Salzburg: Residenz Verlag 1982, S. 187 ff.; S. 372
- Renate Wagner-Rieger (Hg.): Die Ringstraße. Bild einer Epoche. Die Erweiterung der Inneren Stadt Wien unter Kaiser Franz Joseph. Band 4: Theophil von Hansen. Wiesbaden: Steiner 1980, S. 129
- Parlamentschronik. In: Figaro, 19.6.1886, S. 98
- Die schlechte Akustik im Parlament. In: Die Zeit, 29.4.1910. S. 4
- Aus dem Parlamente. In: Neue Freie Presse (Abendblatt), 10.6.1886, S. 1