Findelhaus
48° 14' 3.40" N, 16° 19' 4.29" E zur Karte im Wien Kulturgut
Findelhaus. Im St. Marxer Spital bestand bereits die Stiftung einer Gattin Leopolds I. für ledige Schwangere. Die große Privatstiftung des Freiherrn von Chaos (Chaossches Stiftungshaus; 1663) umfasste die Errichtung eines Hauses "für die Findel- und unerzogenen Hausarmenkinderwaisen". Im 18. Jahrhundert stieg die Rate der unehelichen Geburten europaweit stark an; da es ihre Lebensverhältnisse nicht erlaubten, waren ledige Mütter oftmals gezwungen, sich ihrer Kinder zu entledigen. Die Findelhäuser, die in vielen Städten entstanden, stellten in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus auch ein Mittel dar, Kindesmord zu verhindern und die Kindersterblichkeit zu senken.
Mit Hofdekret wurde 1764 der Bau eines Hauses für jene Findelkinder angeordnet, die bis dahin im Bürgerspital gepflegt worden waren; erst unter Joseph II. wurde das Werk zum Abschluss gebracht. 1784 übersiedelte die Chaossche Stiftung als Vereinigtes Waisen- und Findelhaus in den Strudlhof; bald erfolgte die räumliche Trennung beider Häuser, und das Findelhaus wurde der Direktion der Krankenanstalten unterstellt. 1788 wurde es in ein vom Stift Melk unentgeltlich überlassenes Gebäude neben dem Weißspanierkloster in der Alservorstadt (8, Alser Straße 23, Lange Gasse 69; ehemaliges Trinitarierkloster) verlegt, wo es bis 1910 verblieb, jedoch im Lauf der Zeit durch Zukauf benachbarter Häuser vergrößert wurde (das Findelhaus umfasste letztlich das Areal Alser Straße 21-23, Lange Gasse 61-69 und 68-76).
Nachdem 1852 die Gebär- und Findelanstalt unmittelbar der niederösterreichischen Landesregierung unterstellt worden war und der Landesausschuss am 3. Juli 1868 die Findelanstalt in eigene Verwaltung genommen hatte, trat immer stärker die Notwendigkeit zutage, für den größeren Wirkungskreis der Anstalt einen Neubau zu errichten, der nun auf dem vom Findelhaus-Fonds in Gersthof (18, Bastiengasse 36-38) erworbenen Grund realisiert wurde. Die neue, nach Plänen des Landesbaudirektors Franz Berger erbaute Anstalt, die sich terrassenförmig auf der östlichen Abdachung des Scheibenbergs erhebt und eine Anzahl zweistöckiger Gebäude umfasst, wurde am 20. Mai 1910 in Anwesenheit des Kaisers eröffnet und erhielt die Bezeichnung "Niederösterreichisches Landeszentral-Kinderheim". Das Haus in der Alser Straße wurde veräußert, der Grund parzelliert (Durchbruch der Lange Gasse). Sobald Wien ein eigenes Bundesland war, übernahm die Stadt am 1. Jänner 1922 die Anstalt und benannte sie "Zentralkinderheim der Stadt Wien", womit gleichzeitig ihr Status verändert wurde. Das Heim stand für alle (nicht nur uneheliche) Kinder bis zu einem Alter von zwei Jahren, die der Fürsorge der Stadt Wien zufielen, zur Verfügung; die Zuweisung erfolgte später durch die Kinderübernahmsstelle.
Die Aufnahme- und Standesprotokolle des Findelhaus sind im Wiener Stadt- und Landesarchiv archiviert. Dort sind zu den Daten der Kinder auch die Angaben zur leiblichen Mutter und zu den Pflegeeltern verzeichnet.
Quellen
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- Findelhausprotokolle im Wiener Stadt- und Landesarchiv 1784 - 1814
- Findelhausprotokolle im Wiener Stadt- und Landesarchiv 1815 - 1841
- Findelhausprotokolle im Wiener Stadt- und Landesarchiv 1842 - 1921
Literatur
Allgemein:
- Anna Jungmayr: "... vor Schand und Noth gerettet"?! Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt. Wien: Bezirksmuseum Josefstadt 2021 (= Die Josefstadt: Schriftenreihe des Bezirksmuseums 24)
- Verena Pawlowsky: Mutter ledig, Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784 - 1910. Wien 2001.
- Verena Pawlowsky / Rosa Zechner: Verwaltete Kinder. Das Wiener Findelhaus (1784-1910). In: Wiener Geschichtsblätter 47 (1992), S. 129 ff.
- Verena Pawlowsky: Das „Aussetzen überlästiger und nachtheiliger Kinder“. Die Wiener Findelanstalt 1784–1910
- Das neue N.-Ö. Landes-Zentralkinderheim in Wien-Gersthof. Als Widmung des Landes Niederösterreich zum sechzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. errichtet 1908-1910. Wien: Chwala [circa 1910]
- Technischer Führer durch Wien. Hg. vom Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein. Red. von Martin Paul. Wien: Gerlach & Wiedling 1910, S. 404 f.
- Das neue Wien. Städtewerk. Hg. unter offizieller Mitwirkung der Gemeinde Wien. Band 2. Wien: Elbemühl 1927, S. 467 ff.
- Hans Rotter: Die Josefstadt. Geschichte des 8. Wiener Gemeindebezirkes. Wien: Selbstverlag 1918, S. 108 ff.
- Adolf Wolf: Alsergrund-Chronik. Von der Römerzeit bis zum Ende der Monarchie. Wien: Selbstverlag 1981, S. 115
Wiener Gesundheitsarchitekturen:
- Sanitätsdepartment der k. k. Nieder-Österreichischen Statthalterei. In: Bericht über die Sanitären Verhältnisse und Einrichtungen im Erzherzogthume Österreich unter der Enns für das Jahr 1896. Hg. von der K. K. Nieder-Österreichischen Statthalterei. Wien 1897, S. 75-89