Karl Kraus-Museum
48° 11' 20.04" N, 16° 19' 50.48" E zur Karte im Wien Kulturgut
In einem Hinterhaus der Reindorfgasse 18 errichtete der Anwalt Oskar Samek im Jahr 1937 ein Museum zu Ehren seines ein Jahr zuvor verstorbenen Mandanten Karl Kraus. Samek war Eigentümer des gesamten Zinshauses, in dem er nicht nur wohnte, sondern seit 1934 auch seine Kanzlei betrieb.
Der betreffende Raum im Hinterhof, ursprünglich eine Tischlerwerkstatt des väterlichen Betriebs, wurde unter Mitwirkung des Architekten Karl Járay so umgebaut, dass er "in seinen Maßen wie auch der Lage der Fenster und der Tür ganz dem ursprünglichen Arbeitszimmer entsprach". Nach diesem Umbau, der sicherlich mit beträchtlichen Kosten verbunden war, wurden in dem Hinterhaus die Möbel aus Kraus’ Arbeitszimmer seiner Wohnung in der Lothringerstraße 6 aufgestellt. Diese schufen eine getreue Nachbildung der ehemaligen Arbeitsstätte. Kraus hatte Samek außerdem einige Bücher vermacht, die dort ebenfalls einen Platz fanden. Andere Erben wurden ermutigt, seinem Beispiel zu folgen. Auf diese Weise befand sich schließlich Kraus’ gesamte Bibliothek in dem Gedenkzimmer, das laut Samek den "Grundstein" eines Karl Kraus-Museums bilden sollte.
Dieser Vorläufer eines geplanten Museums zeigt den beträchtlichen Aufwand und Einsatz, der kurz nach Kraus’ Tod betrieben wurde. Ziel war es einerseits, Karl Kraus und sein Werk zu würdigen und andererseits, das Nachleben des Autors zu sichern. Tatsächlich wurde das nachgestellte Zimmer nicht nur als musealer Ort genutzt, sondern hatte auch Relevanz für die Nachlassgeschichte. Laut Helene Kann fungierte es zeitweise sogar als Archiv. Im Hinterhaus der Reindorfgasse wurden Kraus-Manuskripte aufbewahrt, die bei Interesse und "nach vorheriger Anmeldung bei Dr. Samek" eingesehen werden konnten. Somit existierte neben dem Kraus-Archiv in Helene Kanns Wohnung, das bereits zu Kraus’ Lebzeiten Bewunderer anzog, ein weiterer bedeutender Aufbewahrungsort des Kraus-Nachlasses. Die genaue Zusammensetzung dieser Materialien ist heute nicht mehr nachvollziehbar, aber sicher ist, dass Samek unter anderem die Korrekturfahnen der erst posthum veröffentlichten "Dritten Walpurgisnacht" aufbewahrte.
Das Museum wurde vor allem von Freundinnen und Freunden wie Ludwig von Ficker oder der Nachlassverwalterin Helene Kann besucht. Letztere schrieb begeistert an die französische Germanistin und Kraus-Biographin Germaine Goblot im Juli 1937: "Das Zimmer ist wunderschön geworden und hat ganz seine Weihe. Alles steht an seinem Platz, die vielen Bilder hängen an der Wand, seine Bücher sind vollständig." Abseits der Kraus-Gemeinschaft wurde der versteckte Gedenkort jedoch kaum von jemand anderem besucht. Erstaunlicherweise entwickelte er sich nicht nur zum Grundstock eines Kraus-Museums und -Archivs, sondern gerade auch dank der wiederhergestellten Bibliothek zum Ideal einer Kraus-Forschungsstätte. Hier hätten weitere Herausgaben aus dem Nachlass geplant und umgesetzt werden können, wenn nicht nahezu alle Beteiligten 1938 ins Exil hätten gehen müssen. Auch Samek war gezwungen, das Haus, seine Kanzlei und das aufwendig errichtete Kraus-Zimmer in Wien zurückzulassen, als er im Oktober vor den Nationalsozialisten nach New York floh. Trotz der damit verbundenen Risiken nahm er den Kraus-Bestand aus der Reindorfgasse, darunter etwa die über 200 Handakten seines Mandanten, mit auf den langen Weg in die USA. Wie sich herausstellte, gerade noch rechtzeitig. Knapp einen Monat später, im November 1938 – vermutlich also in der Reichspogromnacht – drang die SA in das Haus ein und zerstörte den Gedenkraum. Einige Gegenstände wurden beschlagnahmt, laut Berichten damaliger Mieterinnen und Mieter lag Kraus’ Bibliothek zerstreut im Hausflur, sodass sich jeder an ihr bedienen konnte.
Literatur
- Isabel Langkabel: Das "unterbrochene Werk zur Sprachlehre". Zu den späten sprachkritischen Untersuchungen aus dem Karl Kraus-Nachlass. Kontext – Edition – Erläuterung. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Heidelberg 2023
- Gerlinde Kainz: Oskar Samek und das Haus in der Reindorfgasse 18, in: Karl Kraus: Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek. Wissenschaftliche Edition. Hg. v. Johannes Knüchel und Isabel Langkabel, auf Grundlage der Vorarbeiten Katharina Pragers, unter Mitarbeit von Laura Untner, Andrea Ortner, Ingo Börner und Vanessa Hannesschläger (Wien 2022) [Handapparat], S. 1–22
- Friedrich Pfäfflin: Von Karla und den roten Bücherln. Die Rettung des Karl Kraus-Archivs in den Jahren 1936 bis 1939. Marbach am Neckar: Bibliothek Janowitz 2010