Helene Kann
Helene Kann, * 10. Dezember 1877 Jägerndorf (Krnov, Österreichisch-Schlesien), † 17. September 1949 Ascona (Schweiz), Private und Begründerin des Karl Kraus-Archivs.
Biografie
Herkunft
Helene Marie Kann, geborene Pollak, wuchs als eines von sieben Kindern der Fabrikantenfamilie Pollak in Jägerndorf auf. Ihre Mutter Antonie Pollak (geborene Scheuer) war mit Julius Pollak, dem Likörfabrikanten, Ehrenvorsteher der israelitischen Kultusgemeinde und Mitglied des Handelskammerrates von Jägerndorf, verheiratet. Kann hatte drei Brüder und drei Schwestern. Ihre ältere Schwester Irma Zentner, die mit dem Anwalt Siegmund Zentner verheiratet war, starb 1899 im Alter von 25 Jahren bei der Geburt ihrer Tochter. Ein Jahr später starb auch der Vater Julius Pollak. Die Schwester Elisabeth Reitler war Tänzerin und wurde, wie Helene Kann, von Oskar Kokoschka porträtiert. Sie war mit dem Tuchhändler Gustav Reitler, Mitinhaber des k.u.k. Hoflieferanten Geiringer & Reitler (Tuchhaus Silesia), verheiratet. Aufgrund einer zweiten Firmenniederlassung in Wien wohnte das Ehepaar Reitler ab 1903 in Wien, 1., Walfischgasse 7, wo ihre Wohnung von Adolf Loos eingerichtet wurde. Kanns jüngere Schwester Margarethe Bermann lebte mit ihrem Ehemann, dem Rechtsanwalt Rudolf Bermann, in Karlsbad. Von den Söhnen der Familie Pollak ist nur wenig bekannt.
Leben in Wien
Aus der 1902 mit Rudolf Kann eingegangenen Ehe ging die Tochter Eva-Maria hervor. Kurz nach der Geburt ließ Helene Kann sich 1903 scheiden. Ab 1906 wohnte sie in der Mahlerstraße 14. In derselben Straße befand sich Karl Kraus’ Elternhaus und nur fünf bis zehn Gehminuten davon entfernt lag Kraus’ Wohnung in der Lothringerstraße 6. Kann lebte seit der Scheidung offenbar alleinerziehend. An Kraus schrieb sie 1911 in einer Karte aus Kroatien: "… Sie wissen es, Sie allein, dass die Frauen zu viel Pflichten und zu wenig Rechte haben …". Kraus lernte sie gemeinsam mit der Schwester Elisabeth Reitler 1904 in Bad Ischl kennen. Als sich Reitler am 7. November 1917 im Alter von 43 Jahren das Leben nahm, war auch Kraus vom Tod der geschätzten Freundin schwer getroffen. Der Grund des plötzlichen Todes Elisabeth Reitlers blieb den Nächsten unverständlich. Aber die Folgen des Krieges dürften wohl auch an der Familie Reitler nicht spurlos vorbeigegangen sein. So wurde wenige Tage vor dem Suizid in der Wiener Zeitung bekannt gegeben, dass Gustav Reitler seine Inhaberschaft an den Mitbegründer seiner Firma, die seit Ausbruch des Krieges schwere Zeiten durchmachte, komplett abgetreten hatte.
Freundschaft zu Karl Kraus
Kann und Kraus verband eine jahrelange und mit der Zeit immer enger werdende Freundschaft. Sie unternahmen einige Urlaubsreisen gemeinsam, den neunten Band der "Worte in Versen" (1930) widmete Kraus der Freundin, die wiederum ab circa 1925 das Karl Kraus-Archiv in ihrer Wohnung aufbaute. Offenbar bewahrte sie schon zu Kraus’ Lebzeiten etwa Korrekturfahnen der "Fackel" auf, für die er in seiner Wohnung keinen Platz hatte (ein weiterer Teil der Kraus-Materialien wurde in der Druckerei Jahoda & Siegel aufbewahrt).
In seinem Testament übertrug Kraus 25 Prozent des Ertrags aus seinen Werken an Kann. Er beauftragte sie außerdem mit der Bewahrung und Verwaltung seines Nachlasses. Nach seinem Tod 1936 schrieb Kann an Germaine Goblot, der französischen Germanistin und Freundin von Kraus, dass dieser der große Inhalt ihres Lebens gewesen sei. Die konsequente, hingebungsvolle Bemühung, den Nachlass vor der nationalsozialistischen Zerstörung selbst noch aus dem Exil heraus zu retten, bestätigt die Aussage an Goblot.
Das Karl Kraus-Archiv
Den Nachlass überführte man nach Kraus’ Tod von der Lothringerstraße und der Druckerei Jahoda & Siegel in Kanns Wohnung. Der sich dort bereits seit den 1920ern befindende Teilnachlass wurde durch die Vermittlung Leopold Lieglers an die Österreichische Nationalbibliothek übergeben. Aus dem Exil in der Schweiz versuchte Kann ab 1938, die Rettung des Kraus-Archivs zu veranlassen, das sie nur zum Teil mit in die Schweiz hatte nehmen können. Der sich noch in Wien befindende Teil sollte schließlich im Sommer 1939 über einen Mittler nach Frankreich zu Goblot und schließlich in die Schweiz gebracht werden. Ein Teil des Nachlasses wurde außerdem der Freundin Anita Kössler übergeben, die ins Exil nach Schweden ging.
In Lugano ordnete Kann weiterhin die Materialien und erstellte etwa Typoskripte der schwer lesbaren Manuskripte. Spuren dieser Bearbeitungen finden sich noch heute im Nachlass. Außerdem plante Kann die Herausgabe einer Schrift mit Erinnerungen an Karl Kraus. Hierfür sammelte sie ihre Notizen und Einträge aus ihrem Tagebuch. Sie unterstützte auch Leopold Liegler in der Herausgabe eines Bandes mit Kraus-Gedichten, der im Mai 1939 erschien. Im selben Jahr veröffentlichte Kann einen noch unpublizierten Text aus dem Kraus-Nachlass unter dem Titel "Sprachlehre für Sprachlehrer" in der "Basler National-Zeitung" anlässlich Kraus’ dritten Todestages. 1945 gab Kann gemeinsam mit Willi Reich im Schweizer Pegasus-Verlag die erste posthume Ausgabe der "Letzten Tage der Menschheit" heraus. Nach Kanns Tod wurde der Kraus-Nachlass in den 1950ern als Schenkung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute: Wienbibliothek im Rathaus) übergeben.
Exil
1938 floh Kann ins Exil nach Lugano (Schweiz), wo sich ihre Tochter und ihr Schwiegersohn, der Chemiker Hans Röder, aufhielten. Hans Röder arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Jahren in der Schweiz, was auch für Kann von erheblichem Vorteil war. Neben den unablässigen Versuchen, den restlichen Kraus-Nachlass aus Österreich zu schaffen, waren Kanns erste Monate im Exil allerdings auch von Sorgen um ihre Aufenthaltserlaubnis geprägt, die von ihrer Staatsangehörigkeit abhing. Mit der Übernahme einiger Gebiete Tschechiens durch das Deutsche Reich verlor ihr tschechischer Pass im Oktober 1938 seine Gültigkeit: Kann gehörte von nun an zu den sogenannten Staatenlosen. Neben dem ungültigen Aufenthalt in der Schweiz wurde ihr somit auch das Reisen unmöglich. Gemeinsam mit Germaine Goblot versuchte sie, ein französisches Visum zu beantragen, was über Umwege endlich im Februar 1939 gelang. Sie blieb schließlich jedoch in der Schweiz.
Helene Kann überlebte die Zeit des Nationalsozialismus und starb 1949 in Ascona.
Quellen
- Karl Kraus in der Wienbibliothek Digital
- Rechtsakten Karl Kraus
- Bildnis von Frau Helene Kann in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Literatur
- Friedrich Pfäfflin [Hg.]: Karl Kraus. Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 2 Bde. Göttingen: Wallstein 2005
- Friedrich Pfäfflin [Hg.]: "Aus großer Nähe". Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Göttingen: Wallstein 2008
- Friedrich Pfäfflin: Von Karla und den roten Bücherln. Die Rettung des Karl Kraus-Archivs in den Jahren 1936 bis 1939. Marbach am Neckar: Bibliothek Janowitz 2010