Moralische Wochenschriften
Moralische Wochenschriften setzten sich in Wien nicht vor 1762 durch; Gründe dafür waren, dass die aufklärerische Gedanken auf kaum zu überwindende Widerstände der aufs engste mit Hof und Staat verbundenen katholischen Kirche stießen, ein starkes Bürger- oder Beamtentum, das gegenüber dem katholischen Klerus und dem höfischen Adel ein Selbstbewusstsein hätte entwickeln können, fehlte, und schließlich jedes öffentliche Räsonnement von der Presse- und Zensurpolitik unterdrückt wurde. Erst die Reformen von Wenzel Anton Kaunitz, Friedrich Wilhelm Haugwitz und Gerhard van Swieten, die das Ziel eines aufgeklärten Absolutismus verfolgten, führten zur Entstehung eines gebildeten Beamtentums, das im Falle Wiens zum Träger der Aufklärung wurde und sich mit der Milderung der Zensur ab den 1760er Jahren publizistisch betätigte.
Die bei der Gründungsversammlung (1761) der „Deutschen Gesellschaft" in Wien (die dem Beispiel von Gottscheds „Leipziger Gesellschaft" und der „Deutschen Gesellschaften" folgte) von Joseph von Sonnenfels ausgesprochene Aufforderung an die Mitglieder zur Mitarbeit an Zeitschriften (das heißt an Moralischen Wochenschriften) führte zur Herausgabe verschiedener Blätter. Christian Gottlob Klemm (der "Vater der österreichischen Journalistik") gab 1763/1764 die "Welt" und 1764-1766 den "Österreichischen Patrioten" heraus, Sonnenfels selbst 1764/1765 den "Vertrauten" und 1765-1767 den "Mann ohne Vorurtheil", weiters erschienen der "Verbesserer" (1766/1767), der "Einsiedler" (1773/1774) und der "Weltmann" (1782/1783).
Quantitative Angaben über Auflage und Publikum sind kaum möglich: Zwischen 1749 und 1778 sollen in Wien mindestens 11 derlei Titel erschienen sein, zur Deckung der Druckkosten soll jeweils die nur selten erreichte Zahl von 150 bis 200 Abonnenten nötig gewesen sein.
Die Wiener Moralischen Wochenschriften waren in den Kaffeehäusern und Salons verankert und trugen zur Schaffung einer "bürgerlichen" und "städtischen Öffentlichkeit" (Jürgen Habermas) bei. Sie hielten sich bewusst an englische und deutsche Vorbilder, im Vergleich zur ihnen vorangehenden Wiener Moral- und Sittensatire eines Abraham a Sancta Clara und Johann Valentin Neiner vertraten sie nicht mehr die Position einer barocken Frömmigkeit mit starker Ausrichtung auf das Jenseits, sondern die eines säkularisierten Vernunftglaubens und propagierten eine tugendhafte, nützliche Teilhabe am bürgerlichen Leben. Ebenfalls neu war, dass sie Themen erschlossen, die für die barocke Satire kaum relevant waren, wie Erziehung, Verwaltung und Ökonomie. Ihre zuweilen durchaus vorhandene, mit Satire verbundene Gesellschaftskritik hatte nicht den Umsturz der feudalen Ordnung, sondern die Veränderung des individuellen Verhaltens zum Ziel; sie stellen wichtige Quellen der Stadtbeschreibung Wiens dar.
Ab Mitte der 1770er-Jahre entwickelten sich die Moralischen Wochenschriften zu Unterhaltungsschriften, als Beispiele dafür können Johann Rautenstrauchs "Meinungen der Babet" (1774f) und Joseph Richters "Spaßvogel" (1778) genannt werden.
Literatur
- Kai Kauffmann: "Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994, S. 133–162
- Robert Herrmann: Die Moralischen Wochenschriften Wiens um 18. Jahrhundert (1749-1788). Ein Beitrag zur Sozialgeschichte öffentlicher Kommunikation. Diss. Univ. Wien. Wien 1987