Alfred Kerr
Alfred Kerr, * 25. Dezember 1867 Breslau, † 12. Oktober 1948 Hamburg, Theaterkritiker.
Biografie
Alfred Kerr, eigentlich Alfred Kempner, wurde am 25. Dezember 1867 als Sohn des jüdischen Weinhändlers und Fabrikbesitzers Emanuel Kempner und dessen gleichfalls jüdischer Ehefrau Helene, geborene Calé, in Breslau geboren. Er hatte eine Schwester, Anna Kempner. Seine Kindheit verbrachte er in Breslau. Dort studierte er nach seiner Gymnasialzeit zwei Semester Germanistik, Philosophie und Geschichte. 1887 wechselte nach Berlin und anschließend nach Halle, wo er 1894 mit einer Arbeit über Clemens Brentanos Jugenddichtungen promovierte.
Bereits während des Studiums hatte Kerr begonnen journalistisch zu arbeiten. So schrieb er unter anderem Theaterkritiken für die "Vossische Zeitung", die "Neue Rundschau" und die "Breslauer Zeitung". Die Honorare, die er für seine Beiträge erhielt, ermöglichten ihm ein auskömmliches, selbstbestimmtes Leben und eröffneten die Möglichkeit, zu reisen. Von Anfang an verwendete er den Nachnamen "Kerr", um nicht mit der Schriftstellerin Friederike Kempner verwechselt zu werden. Die offizielle Namensänderung erfolgte am 27. Oktober 1909.
Nach dem Abschluss des Studiums setzte er die Tätigkeit als Rezensent fort und erwarb sich in der Folge durch Witz, Originalität und Angriffsfreude eine einflussreiche Position im Berliner Kulturleben. Seine Theaterkritiken waren typischerweise prägnant auf wenige Sätze verdichtet und pointiert zugespitzt. Das Urteil war nicht selten vernichtend – wie beispielsweise im Fall von Thomas Mann, den Kerr nach der Aufführung von Manns Stück "Fiorenza" (1913) spöttisch als "feines, etwas dünnes Seelchen" bezeichnete. Andererseits förderte Kerr aber auch Autoren wie Robert Musil, Frank Wedekind und Gerhart Hauptmann, an dessen Aufstieg zum wichtigsten Dramatiker des Deutschen Kaiserreichs er einen wesentlichen Anteil hatte.
Von 1900 bis 1919 schrieb er für die Berliner Zeitung "Der Tag" des Verlegers August Scherl. Ab 1911 war Kerr zusammen mit Paul Cassirer Mitherausgeber und später (1912–1915) Alleinherausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift PAN. Im Verlauf dieser Tätigkeit kam es zur ersten größeren Auseinandersetzung mit Karl Kraus. Kerr hatte einen privaten Annäherungsversuch des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow an Cassirers Ehefrau Tilla Durieux in der Zeitschrift öffentlich gemacht. Kraus griff ihn deswegen in einer Reihe von Artikeln scharf an und warf ihm vor, die Auflagenzahlen durch Enthüllung privater Details steigern zu wollen. Kerr verfasste daraufhin ein Spottgedicht, um Kraus zu diskreditieren:
Krätzerich; in Blättern lebend,
Nistend, mistend, »ausschlag«-gebend.
Armer Möchtegern! Er schreit:
»Bin ich ä Perseenlichkeit ...!«
Wie der Sabber stinkt und stiebt,
Wie sich 's Kruppzeug Mühe gibt!
Reißen Damen aus und Herrn,
Glotzt der arme Möchtegern.
Vor dem Duft reißt mancher aus,
Tachtel-Kraus. Tachtel-Kraus,
Armes Kruppzeug – glotzt und schreit:
»Bin ich ä Perseenlichkeit ...!«
Kraus seinerseits druckte die Verse in der "Fackel" vom 08. Juli 1911 ab – und versah sie mit einem lakonisch pointierten Kommentar: "Es ist das Stärkste, was ich bisher gegen Herrn Kerr unternommen habe. Gewiß, die drei Aufsätze haben einige Beachtung gefunden. Was aber bedeutet aller Aufwand von Kraft und Kunst gegen die spielerische Technik des Selbstmords?" Der Spott fiel auf Kerr zurück und sein Ansehen nahm aufgrund dieser Auseinandersetzung in Teilen der Öffentlichkeit empfindlichen Schaden.
1918 heiratete Kerr die Pfarrerstochter Ingeborg Thormählen, die noch im gleichen Jahr an der Spanischen Grippe verstarb. Eine zweite Heirat erfolgte 1920. Kerr heiratete Julia Weismann, die Tochter eines preußischen Staatssekretärs. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Michael Kerr und Judith Kerr.
Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Kerr für zwei der bedeutendsten Zeitungen der Weimarer Republik: das "Berliner Tageblatt" und die "Frankfurter Zeitung". Abermals kam es zu einem Konflikt mit Kraus. Kerr hatte im Krieg patriotische Positionen vertreten und unter einem Pseudonym nationalistische Gedichte verfasst. Als er sich im internationalen Kontext für Pazifismus und Völkerverständigung einsetzte, wurde er diesbezüglich von Kraus angegriffen, der ihm vorwarf nicht öffentlich zum Inhalt der von ihm während des Krieges verfassten Texte Stellung genommen zu haben. In der Folge kam es im März 1927 zu einem Gerichtsverfahren vor dem Amtsgericht Berlin Charlottenburg, das allerdings in beiderseitigem Einvernehmen eingestellt wurde, da die Fortführung der Auseinandersetzung aufgrund ihrer Komplexität und juristischen Uneindeutigkeit für keine Seite Erfolg versprach.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 musste Kerr aufgrund seiner jüdischen Herkunft und als entschiedener Gegner der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) emigrieren. Im Februar des gleichen Jahres floh er zusammen mit seiner Familie über Prag, Wien, Lugano und Zürich zunächst nach Paris, später nach London.
Im Exil engagierte er sich weiter journalistisch: 1938 war er Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbunds in London und von 1939 bis 1947 Vorsitzender des Deutschen P.E.N. Clubs, ebenfalls in London.
Als Kerr anlässlich einer Vortragsreise durch Deutschland in Hamburg einen Schlaganfall erlitt, entschied er sich freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Am 12. Oktober 1948 nahm er sich das Leben.
Quellen
Literatur
- 12.10.1948: Theaterkritiker Alfred Kerr stirbt in Hamburg. In: WDR Zeitzeichen – Der Geschichts-Podcast, 12.10.2023 [Stand: 21.01.2024]
- Bernd Noack: "Ich schreie nach Bestätigung". In: NZZ, 07.03.2017 [Stand: 21.01.2024]
- LeMO Lebendiges Museum Online: Alfred Kerr [Stand: 21.01.2024]
- Deutsche Biographie: Alfred Kerr[Stand: 21.01.2024]
- Wikipedia: Alfred Kerr [Stand: 21.01.2024]
Alfred Kerr im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.