Erwachsenenbildung im Roten Wien
Ziele der Erwachsenenbildung
Wiewohl die Bildungspolitik im "Roten Wien" auf die Schulreform fokussiert war, wurden auch zahlreiche Reformschritte in der Erwachsenenbildung gesetzt, denn die Arbeiterbewegung verstand sich als Kulturbewegung. Ziel dieser Maßnahmen war es vor allem, bildungsferne Schichten aus der Arbeiterschaft mit Grundwissen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, besonders aber auch der klassischen bürgerlichen Hochkultur vertraut zu machen.
Freizeit der Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg
Noch in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs arbeiteten fast 90 Prozent aller Fabrikarbeiter über neun Stunden täglich, die überwiegende Mehrheit hatte Zwölf-Stunden-Schichten. Unter Berücksichtigung des Arbeitsweges blieb damit kaum Zeit für Freizeitbeschäftigungen. Lediglich an Sonn- und Feiertagen war für Freizeitaktivitäten etwas mehr Zeit. Gerade aufgrund dieser Situation konzentrierten Sozialdemokratie und Gewerkschaften ihre Bemühungen zur Verbesserung der Bildung der Arbeiterschaft auf die Hochburgen der Industriearbeiterschaft, also insbesonders auf Wien. Zum Teil schon vor dem Krieg kam es auch zur Zusammenarbeit mit bürgerlichen Volksbildungseinrichtungen wie dem Verein Volksheim.[1]
Sozialgesetzgebung 1918-1920
Zur Reformgesetzgebung der Jahre 1918 bis 1920 zählte auch das im Juli 1919 beschlossene Arbeiterurlaubsgesetz und die Einführung des Acht-Stunden-Tages. Damit wurden die Samstagnachmittage und Sonntage zu den regelmäßig genutzten Zeiten für Freizeitbeschäftigung. Die Folge war ein sprunghafter Anstieg der Ausleihe in städtischen Büchereien. Auch Kurse und Vorträge erfreuten sich eines erheblichen Zustroms.
Organisation
Am 30. Juli 1919 kam es zum Zusammenschluss aller Volksbildungseinrichtungen unter der Leitung des neugegründeten staatlichen Volksbildungsamtes. Auf Landesebene wurden Volksbildungsreferenten installiert. Schon Ende 1918 war die "Zentralstelle für das Bildungswesen" von der Sozialdemokratischen Partei in Zusammenarbeit mit der niederösterreichischen Landesparteivertretung und der Gewerkschaftskommission eingerichtet worden. Sie wurde zur Koordinierungsstelle der Bildungsarbeit in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Bald danach wurde auch eine Zentralstelle für Arbeiterbibliotheken und eine Stelle für Konzert- und Theaterbesuche ("Kunststelle") installiert. Diese im November 1919 ins Leben gerufene Stelle hatte 1922 bereits 40.000 Mitglieder.[2]
Das Angebot
Den Arbeiterbibliotheken gelang es rasch, die Ausleihen erheblich zu steigern. Im Jahr 1927 wurden 1,1 Millionen Bände ausgeliehen, 1932 2,3 Millionen. Für das Studium der modernen Sozialwissenschaften, besonders des Marxismus, wurde die Studienbibliothek der Arbeiterkammer in Wien eingerichtet, welche durch Zukäufe und die Übernahme der Nachlassbibliotheken von Viktor Adler und anderen sozialdemokratischen Intellektuellen und Politikern rasch ein hohes Niveau erreichte.
Die "Kunststelle" traf unter den Aufführungen der Wiener Bühnen eine Auswahl und vermittelte Karten für Theater und Oper. Auch Führungen durch Museen und Ausstellungen wurden organisiert. Eigene Kunstausstellungen ("Kunst und Volk") und ein eigener Singverein sollten eine eigenständige Arbeiterkultur fördern.
Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsreform
In der Erwachsenenbildung wurde mit der Einrichtung von Volkshochschulen und Städtischen Büchereien ein zuvor nicht und nur sehr ungenügend bestehendes Angebot für Bildungswillige zur Verfügung gestellt. Diese Einrichtungen erfreuten sich relativ großer Beliebtheit. In Literatur und Kunst gingen die sozialdemokratischen Bildungsreformer vom klassischen Bildungsideal aus und lehnten die moderne Freizeitindustrie als kommerziell und dilettantisch ab. Theater, Konzerte und Oper wurden stark gefördert. Das Vordringen der Konsumgesellschaft stand allerdings zum klassischen Bildungsideal der Reformpolitiker im Widerspruch. Kino und Fußball wurden gegenüber Goethe und Schiller bevorzugt.[3] Der durch die Erfolge der "österreichischen Revolution" gesteigerte Glaube an die Kulturmission des Proletariats erfüllte sich nicht. Der Versuch von Bildungspolitikern wie Josef Luitpold Stern und David Josef Bach die Kultur der deutschen Klassik der Arbeiterschaft zu vermitteln scheiterte. Ebenso scheiterten Bemühungen einen sozialdemokratischen Rundfunksender und eine eigene Film- und Theaterproduktion ins Leben zu rufen. Wie Statistiken der Ausleihungen in den Arbeiterbibliotheken belegen, waren sozialkritische Arbeiterromane nicht gefragt. Vielmehr bevorzugten die Bibliotheksbesucher Abenteuerromane von Jack London, B. Traven, Upton Sinclair, jedoch auch Kritisches von Erich Maria Remarque.[4] Ungebrochener Beliebtheit erfreute sich auch Karl May.
Siehe auch: Städtische Erwachsenenbildung
Literatur
- Erik Adam [u.a.]: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Entwicklung und Vorgeschichte. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1983 (Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert)
- Dieter Langewiesche: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980 (Industrielle Welt, 29)
- Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker 1980
- Was wurde in Wien 1932 gelesen? In: Bildungsarbeit 20 (1933)
Einzelnachweise
- ↑ Dieter Langewiesche: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980 (Industrielle Welt, 29), S. 53.
- ↑ Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker 1980, S. 60.
- ↑ Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker 1980.
- ↑ Was wurde in Wien 1932 gelesen? In: Bildungsarbeit 20 (1933), S. 144.