Flandrenserprivileg
Das Flandrenserprivileg ist ein Privileg Herzog Leopolds VI. aus dem Jahre 1208. Das Original ist somit die älteste Urkunde, die im Wiener Stadt- und Landesarchiv verwahrt wird.
Das Flandrenserprivileg befand sich im 16. Jahrhundert angeblich im Besitz der Herren von Ebersdorf und gelangte mit deren Aussterben in das Archiv der niederösterreichischen Stände, das später Teil des Niederösterreichischen Landesarchivs. Am 28. Dezember 1921 wurde es dem Archiv der Stadt Wien übergeben. [1]
Handwerk und Gewerbe der flandrischen und rheinischen Städte besaßen gegenüber dem Südosten Mitteleuropas einen Entwicklungsvorsprung. Leopold VI. bemühte sich daher, gegen entsprechende Zusagen (beispielsweise wirtschaftliche Vorteile betreffend) qualifizierte Kräfte in Österreich zu fördern bzw. diese dadurch nach Österreich zu holen. In diesen Zusammenhang dürfte ebenfalls die Entstehung des sog. „Flandrenserprivilegs“ fallen. Die Flandrenser kamen ursprünglich aus dem heute niederländischen Raum, mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie - wie ihre Bezeichnung vermuten lässt - in Flandern ansässig gewesen. Aus dem Urkundentext geht hervor, dass ihre Präsenz in Wien sehr willkommen war; vielleicht hatte Leopold im Zuge seiner wirtschaftsfördernden Maßnahmen sie auch eigens angeworben.
Inhalt der Urkunde
Der Text der Urkunde ist relativ knappgehalten und lässt in einigen Punkten Interpretationsspielraum zu. Klar ist jedenfalls, dass Leopold die Flandrenses, wie sie in der Urkunde genannt werden, mit überaus vorteilhaften Rechten ausstattete. Der Herzog beurkundet, dass er in seiner Stadt Wien (in civitate nostra Wiena) als seine Bürger (burgenses nostros) Leute angesiedelt habe (instituimus), die hier (exakter Wortlaut „bei uns“, apud nos) Flandrenser genannt würden (Flandrenses nuncupantur). Die Bedingungen für deren Ansiedlung in Wien werden anschließend genau festgelegt: Sie sollen dasselbe Markt- und weltliche Recht, ebenso dieselben Freiheiten und Privilegierungen wie die anderen Wiener Bürger genießen; sie unterstehen bei gerichtlichen Klagen nicht dem herzoglichen Stadtrichter, sondern dem herzoglichen Münzkämmerer (coram camerario monete nostre); schließlich soll auch niemand im Arbeitsbreich der Flandrenser tätig sein (in eorum officio negociari), solange er nicht in ihr consortium aufgenommen worden sei.
Lange Zeit hat die Forschung die mit dieser Urkunde begünstigten Flandrenser einhellig als Tuchfärber identifiziert. Diese Gleichsetzung mit den Färbern geht wohl auf die Überlieferung der Privilegienbestätigung für die Flandrenser durch Herzog Albrecht III. vom 18. Dezember 1373 im Wiener Eisenbuch (folio 73r–v) zurück, wo es in der Überschrift heißt: Der brief lautt von der Flemmygen oder der verber rechten („Die Urkunde über die Rechte der Flamen oder Färber“). Neuerdings wird allerdings vermehrt darauf hingewiesen, dass es sich bei den in der Urkunde von 1208 genannten Flandrenses wahrscheinlich um einen Zusammenschluss (consortium) von flandrischen, am Donauhandel interessierten Kaufleuten handelte, deren Interesse es war, vom Landesfürsten rechtliche Vorteile zu erlangen (Irsigler 2012, darauf Bezug nehmend Gneiß 2017; siehe Bibliographie). Dies schließt freilich nicht aus, dass diese ursprünglich als Kaufleute in Wien angesiedelten Flandrenser sich im Laufe der Zeit der Tuchfärberei zuwandten, zumal sie wohl von Anfang an intensiv in den Tuchhandel involviert waren. Dass in der erwähnten im Eisenbuch enthaltenen Abschrift der Privilegienbestätigung des 14. Jahrhunderts consortium mit ampt, einem anderen Wort für „Zeche“, übersetzt wurde, muss nicht bedeuten, dass dies dem zeitgenössischen Verständnis des frühen 13. Jahrhunderts entsprach. Zechen tauchen in Wien erst im späten 13. Jahrhundert vermehrt auf und nehmen im 14. Jahrhundert konkretere Formen an. Ab dem 14. Jahrhundert sind Tuchfärber jedenfalls in Erdberg nachzuweisen (Nottendorf).
Fehlerhaft angebrachtes Siegel
Das Privileg wurde auf Pergament niedergeschrieben. Auf dem Siegel, das an einer rötlichen Seidenschnur hängt, kann man trotz Beschädigungen einen Reiter erkennen. Durch einen Fehler beim Anbringen des Siegels ist der Reiter jedoch um 90 Grad gedreht dargestellt.
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv-Urkunden, U3: 0b
- Hochauflösendes Digitalisat auf Monasterium.net
Literatur
- Markus Gneiß: Das Wiener Handwerksordnungsbuch (1364 bis 1555). Edition und Kommentar. Wien: Böhlau Verlag 2017 (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 16) (FWF-E-Book-Library), S. 20
- Franz Irsigler: Polyethnizität als Chance und Gefahr - Flandern und Flamen. In: Kurt-Ulrich Jäschke / Christhard Schrenk [Hg.]: Vieler Völker Städte: Polyethnizität und Migration in Städten des Mittelalters? Chancen und Gefahren. Vorträge des gleichnamigen Symposiums vom 7. bis 10. April 2011 in Heilbronn. Heilbronn: Stadtarchiv Heilbronn 2012 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn, 21), S. 209-230
- Wien im Mittelalter. 41. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Karlsplatz, 18. Dezember 1975 bis 18. April 1976. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1975 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 41), S. 84
- Helmuth Größing: Das Wiener Stadtrecht und seine älteste Niederschrift. In: Wiener Geschichtsblätter 26 (1971), S. 286-296
Einzelnachweise
- ↑ Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 436, A1: 493/1921