Kaufruf
Kaufruf. In vergangenen Jahrhunderten war die Straße nur geringfügig durch den Fuhrwerksverkehr in Anspruch genommen, sodass die Menschen diese für ihre geschäftliche Tätigkeiten mitbenutzten. Im Mittelalter waren es die Handwerker, Händler und Bauern, die für ihre Tätigkeit Straßenflächen in Anspruch nahmen. Die Handwerker übten zum Teil ihren Beruf (oder zumindest den Verkauf) vor ihren Geschäften aus, die Händler waren überwiegend auf Marktplätzen tätig, die Bauern kamen mit ihren Waren (Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Eier, Geflügel) in die Stadt und boten sie auf Straßen und Plätzen zum Verkauf an. Neben den ortsgebundenen Geschäftsleuten gab es hauptberufliche fahrende Händler (ohne festen Standort) von großer Vielzahl: die überwiegende Mehrheit zog mit Kleinwaren (die sie in einem Korb, Bauchladen oder Binkel trugen) durch die Straßen (sie verkauften insbesondere Stoffe, Bekleidung, Haushalts- und Toiletteartikel, aber auch Lebensmittel), zu kleineren Gruppen gehörten jene, die Dienstleistungen anboten (Scherenschleifer, Rastelbinder, Holzhauer und so weiter) und Vorführungen veranstalteten (Guckkastenmann, Leierkastenmann, Taschenspieler, Gaukler, Musikanten); die sozial am tiefsten stehenden Gruppen waren Trödler, Aschenmann, Lumpen- und Abfallsammler (wobei letztere rangmäßig bereits den Bettlern gleichzusetzen waren). Alle diese Berufsgruppen machten die Konsumenten durch einen seit Jahrhunderten feststehenden, für jede Sparte spezifischen „Ruf" auf sich aufmerksam, der jeweils nach einer bestimmten Melodie gesungen wurde; dies unterschied sie wesentlich von allen sonstigen Berufen (da die meisten Wanderhändler Waren verkauften, nannte man den Ruf auch „Kaufruf"). In dieser Berufsgruppe sind zwar Männer und Frauen gleichermaßen vertreten, doch nahm der Anteil der Frauen in dem Maß ab, als die Tätigkeit höher bewertet wurde. Zahlreiche Wanderhändler kamen aus verschiedenen Teilen der Monarchie nach Wien, um hier ihre Geschäfte abzuwickeln; als typische Vertreter ihres Stands sind beispielsweise Leinwandhändler aus Schlesien, Zwiebelverkäufer aus Kroatien, Rohrdeckenhändler aus der Slowakei, Salamiverkäufer und Figurinimänner aus Italien, Teppichkrämer aus Tirol, Pfeifenhändler aus Griechenland oder Orangenverkäufer aus Krain (Gottschee) zu nennen.
Die Industrialisierung und die Vermehrung der Verkaufsgeschäfte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trieben zahlreiche Straßenhändler in die Fabriken, einige wenige vermochten sich im Klein- oder sogar Großhandel zu etablieren. Nach der Eingemeindung der Vororte (1890-1892) ging die Zahl der „Kaufrufer" entscheidend zurück, nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden sie mehr und mehr aus dem Straßenbild, doch boten sie ihre Dienste noch in Häusern an (beispielsweise Scherenschleifer, Kesselflicker, Rastelbinder, Hadernsammler); verblieben sind Maronibrater und Lavendelverkäuferinnen, ergänzt durch die neu auf den Straßen auftretenden Zeitungsverkäufer.
Darstellungen
Schon früh begann man, die „Wiener Kaufrufe" bildnerisch oder graphisch darzustellen. Im 18. Jahrhundert produzierte die Porzellanmanufaktur Augarten farbige Miniaturfiguren. 1775/1776 gab Johann Christian Brand seine berühmte Kupferstichfolge „Kaufruf von Wien" heraus (3. Auflage 1798), 1777 folgte ihm Jakob Adam. Eine zweite Entwicklungsphase wird durch die naturalistischen „Wiener Szenen" von Georg E. Opitz (1804-1812) charakterisiert, der sich erstmals nicht unter den Sammlern, sondern im Volk seine Käufer suchte; diese großangelegte Kaufruf-Folge erschien beim Verleger und Kunsthändler Josef Eder. Nach 1815 erschienen neue „Wiener Szenen und Volksbeschäftigungen", die Jeremias Bermann, der Schwiegersohn Eders, nach Vorlagen von Josef Lanzedelly dem Älteren als kolorierte Kreidelithographien herausgab (Lanzedelly orientiert sich zwar an Opitz, bietet aber nicht bloß einen Ausschnitt, sondern erfasste bühnenmäßig ganze Straßen oder Höfe). Um 1820 folgten „Wiener Scenen aus dem gemeinen Leben" im Verlag Tranquillo Mollo. Die dritte Entwicklungsphase, die in die Biedermeierzeit fällt, findet ihren Höhepunkt mehr in der Zahl der Darstellungen als in ihrem künstlerischen Wert, fand jedoch eine neue Zielgruppe in der Jugend (hierher gehören die Mandelbogen [Ausschneideblätter für Kinder] des Josef Trentsensky und der „Wiener Bilder" des Matthias Trentsensky, aber auch anderer Verlage bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie Bilderbücher und Almanache verschiedener Verleger); in diesem Zeitraum erschienen auch die ersten Bildserien mit den Originaltexten der „Rufe" im Wiener Dialekt (1823 „Kleiner Kaufruf" im Format von Spielkarten, erschienen im Verlag des Jeremias Bermann), wogegen die Melodien von der zeitgenössischen Reiseliteratur über Wien bewahrt wurden. Am Vorabend der Revolution wurde 1847 das Erscheinen ursprünglich kritischer Texte der Kreidelithographienfolge „Wiener Charaktere in bildlicher Darstellungen" von Anton Zampis von der Zensur verhindert. Während sich ab 1870 auch die Fotografie dem Thema zuwandte (anfangs Otto Schmidt mit seinen „Wiener Straßen-Bildern", vor dem Ersten Weltkrieg Dr. Emil Mayer) und Isa Jechl (eine Schülerin Rudolf von Alts) Aquarelle nach noch lebenden „Originalen" schuf, gab Ladislaus Eugen Petrovits (ein Freund Alts) um 1880 die Serien „Wiener Typen" und „Wiener Straßenbilder" (Fuhrwerke und Typen) innerhalb der großen Reihe der „Neuen Wiener Bilderbogen" im Verlag Freytag & Berndt heraus.
Literatur
- Hubert Kaut: Kaufruf aus Wien. Volkstypen und Straßenszenen in der Wiener Graphik von 1775 bis 1914. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1970