Sidonie Nádherný von Borutin
Sidonie Nádherný von Borutin, * 1. Dezember 1885 Janowitz, † 30. September 1950 Harefield, Adlige.
Biografie
Sidonie Amalie Wilhelmine Caroline Julie Maria Nádherný von Borutin wurde als Tochter von Baron Carl Ludwig von Nádherný und seiner Frau Amélie, geborene Klein, Freiin von Wisenberg auf Schloss Janowitz in Böhmen geboren. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Carl (eigentlich: Karel Maria Ludvík Hubert Adalbert) und ihrem ein Jahr älteren Bruder Johannes-Jan Karel Ludvík Sidonius Adalbert Julius Otmar Maria wuchs sie auch auf diesem Familiensitz auf. Die Freiherren Nádherný von Borutin waren ein jüngeres böhmisches Adelsgeschlecht, das 1833 durch Erhebung in den österreichischen Edlenstand begründet worden war. 1895 wurde sie zusammen mit ihren Brüdern in den Freiherrenstand erhoben. Das Einkommen aus dem Familiensitz ermöglichte ein privilegiertes Leben in Kultiviertheit und Wohlstand. Sport, Reiten und ausgedehnte Reisen gehörten dazu. Zudem war Sidonie literarisch gebildet und künstlerisch interessiert. Die Gefühlsbindung der Geschwister untereinander war eng und intensivierte sich nach dem Tod des Vaters (1895) und der Mutter (1910) noch mehr.
Auf ihren ausgedehnten Reisen machte sie die Bekanntschaft führender zeitgenössischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Intellektueller - unter ihnen waren Lou Andreas-Salomé, Ludwig von Ficker und Fürstin Marie von Thurn und Taxis. Eine enge Freundschaft verband sie mit Rainer Maria Rilke, zu dessen Mäzeninnen sie gehörte. Sie lernte Rilke bereits 1906 in Paris im Atelier von Auguste Rodin kennen. Fortan korrespondierte sie mit dem Dichter und blieb bis zu seinem Tod 1926 mit ihm in Verbindung.
Fast noch zentraler war ihre Beziehung zu dem Satiriker und Publizisten Karl Kraus. Ihn traf sie zum ersten Mal am 8. September 1913 im Rahmen einer Gesellschaftsrunde im Wiener Café Imperial, kurz nach dem Tod ihres Zwillingsbruders. Es war für beide eine prägende Erfahrung. So schrieb Sidonie Nádherný am 12. September in einer Tagebuchnotiz über das Zusammentreffen: "nach 10 Min. gekannt". Kraus seinerseits war von der gebildeten Adligen fasziniert. Im Verlauf einer intensiven und wechselvollen Beziehung sollte er ihr über 1.000 Briefe, Postkarten und Telegramme schreiben. Ab November 1913 weilte Kraus regelmäßig als Gast auf Schloss Janowitz, Nádherný immer wieder in Wien und als Zuhörerin bei den Kraus'schen Vorlesungen und bald stand der Gedanke einer Heirat im Raum. Dies allerdings stieß in den adligen Kreisen, in denen Nádherný verkehrte, auf Ablehnung. Die Kluft zwischen einer katholischen Adligen und einem gesellschaftskritischen Intellektuellen jüdischer Herkunft schien zu groß. Und sie wurde zusätzlich durch den Umstand verstärkt, dass ihr Bruder Carl ebenfalls Vorbehalte gegen eine Eheschließung hatte. Die Heirat kam nicht zustande, woran auch ein Brief Rilkes seinen Anteil hatte. Dieser hatte Sidonie im Februar 1914 vor einer Beziehung mit Kraus eindringlich gewarnt .
In weiterer Folge erwog Sidonie Nádherný eine Zweckehe mit dem florentinischen Adligen Graf Carlo Guicciardi und versuchte Kraus davon zu überzeugen, dass diese Konventionsverbindung ihre Liebesbeziehung nicht beeinträchtigen würde. Kraus blieb skeptisch und seine Briefe zeigen große Verlustängste. Letztlich wurde die für den 6. Mai 1915 angesetzte Hochzeit mit dem Grafen durch den sich anbahnenden Krieg zwischen Österreich und Italien verhindert. Die Beziehung zwischen Kraus und Nádherný überstand diese frühen Krisen, blieb aber kompliziert. Einerseits war Sidonie in ihren Gefühlen gegenüber Kraus schwankend und wollte sich – wie auch Kraus – in erotischer Hinsicht keinen monogamen Zwängen unterwerfen, anderseits nötigten der gesellschaftliche Standesunterschied und die öffentliche Wirksamkeit des Satirikers beide zu Diskretion. So erschien Sidonies Name in der Fackel nur ein einziges Mal – im Zusammenhang mit der Übersendung eines Grillparzer-Manuskripts, datiert auf den 10. Juli 1914. Weitere Nennungen unterblieben, wenngleich sie und der Garten von Janowitz besonders die Entstehung von Kraus' lyrischem Werk maßgeblich beeinflussten. Auch große Teile des Weltkriegsdramas "Die letzten Tage der Menschheit" entstanden in Janowitz, das Kraus zur Zuflucht wurde. Während des Ersten Weltkriegs hielt sich Nádherný bevorzugt in der Schweiz auf und traf auch dort oft mit Kraus zusammen.
Anhand der Tagebuchaufzeichnungen Nádhernýs lässt sich ableiten, dass sie die Intensität der Gefühle, die Kraus ihr entgegenbrachte, durchaus auch als belastend und einengend empfand. Ende 1917 kam es zu einer allmählichen Entfremdung zwischen beiden, die schließlich im Oktober 1918 zum offenen Bruch führte. Sidonie Nádherný verband sich mit dem österreichischen Mediziner Max Graf Thun und Hohenstein, den sie am 12. April 1920 heiratete. Die Ehe scheiterte jedoch bereits nach wenigen Monaten - wurde aber erst 1933 offiziell geschieden - und im Dezember desselben Jahres war sie wieder mit Kraus vereint. Auf eine weitere kurze Phase der Entfremdung 1924 folgte eine abermalige Versöhnung im September 1927. Die Verbindung der beiden blieb bis zum Tod von Kraus am 12. Juni 1936 bestehen.
Nádherný war zeitlebens eine höchst emanzipierte, unabhängige Frau, die ihre Freundschaften und ihr Netzwerk auch als Salonière pflegte. Zu ihren Kreisen gehörten etwa auch die Schriftstellerinnen Mary Dobrženský und Mechthilde Lichnowsky, die Komponistin Dora Pejačević, der Architekt Adolf Loos, der tschechische Schriftsteller Karel Čapek und der Maler Max Švabinský. Besonders mit ihren erstgenannten Freundinnen unternahm sie viele Reisen, man lud sich gegenseitig ein und blieb stetig in Austausch. Nádherný unternahm zwischen 1923 und 1931 zahlreiche Reisen nach Ägypten, Syrien, Palästina, Griechenland, Kairo, Konstantinopel und Genua.
Nach dem Tod ihres älteren Bruders lebte sie zurückgezogen auf Schloss Janowitz, musste mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfen und das Anwesen 1942 verlassen, da es von der SS als ein militärisches Übungsgelände requiriert wurde. Nach dem Krieg bemühte sie sich, den Familienbesitz zurückzuerhalten, wurde aber 1948 vom tschechoslowakischen Staat enteignet. Ab 1948 lebte sie hauptsächlich bei Freunden in Prag und emigrierte 1949 nach London, wo sie unter anderem mit ihrer langjährigen Freundin Mechthilde Lichnowsky zusammentraf. 1947 trat sie in einen intensiven brieflichen Austausch mit dem amerikanischen Schriftsteller und Maler Albert Bloch, der Kraus ins Englische übersetzt, ihn aber nie persönlich kennengelernt hatte. In dieser Korrespondenz reflektierte sie ihre Beziehung zu Kraus erneut und gab Bloch zahlreiche Hintergrundinformationen.
1950 wurde sie wegen eines Krebsleidens in ein Spital eingeliefert und starb im selben Jahr verarmt im englischen Exil. 1999 wurde Nádhernýs Sarg nach Janowitz überführt und dort im Schlosspark bestattet. Schloss und Park wurden zwischen 2000 und 2007 in tschechisch-deutscher Zusammenarbeit wiederhergestellt und zu einer kulturellen und wissenschaftlichen Begegnungsstätte ausgebaut. Die Korrespondenzen, die Sidonie von Nádherný mit Rilke, Kraus und Bloch pflegte, sind mittlerweile veröffentlicht und dokumentieren ihre Bedeutung als Diskussionspartnerin in den Kreisen der europäischen Moderne.
Literatur
- Katharina Prager / Simon Ganahl [Hg.]: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J.B. Metzler 2022
- Friedrich Pfäfflin / Alena Wagnerová [Hg.]: Gartenschönheit oder Die Zerstörung von Mitteleuropa: Sidonie Nádherný – Briefe an Václav Wagner 1942–1949: Göttingen. Wallstein 2015
- Joachim W. Storck unter Mitarbeit von Waltraud und Friedrich Pfäfflin [Hg.]: Rainer Maria Rilke – Sidonie Nádherný von Borutin, Briefwechsel 1906–1926. Göttingen: Wallstein 2007
- Friedrich Pfäfflin [Hg.]: Der Park von Janowitz. Aus den Tagebüchern des Grafen Schaffgotsch 1929-1933. Warmbronn: Verlag Ulrich Keicher 2007
- Friedrich Pfäfflin [Hg.]: Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nadherny von Borutin. 1913-1936, 2 Bände. Göttingen: Wallstein 2005
- Edward Timms: Karl Kraus. Apokalyptic Satirist. The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika. London: Yale University Press 2005
- Alena Wagnerová: Das Leben der Sidonie Nádherný. Eine Biographie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2003
- Elke Lorenz [Hg.]: "Sei Ich ihr, sei mein Bote". Der Briefwechsel zwischen Sidonie Nádherný und Albert Bloch, München: Iudicium, 2002
- Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999
- Paul Schick: Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976
Sidonie Nádherný von Borutin im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.