Advokaten
Auf dem Boden des heutigen Österreich dürften seit Ende des achten Jahrhunderts „Rechtsweiser" und „advocati" vor den damaligen Gerichten aufgetreten sein. Das Wiener Stadtrechtsbuch legte die Pflichten und Rechte der Rechtsbeistände beim Schrannengericht fest (Gerichte, Stadtgericht, Stadtgerichtsbeisitzer, Stadtrichter). Mit der Einführung des römischen Rechts und der Gründung der Universität Wien (1365) kam es zu einer Weiterentwicklung der Rechtspflege.
Seit Anfang des 16. Jahrhundert ist die Advokatur ein gelehrter Beruf, der die Absolvierung der Universität voraussetzt. Rechtsgelehrte der Universität wurden zu höheren Richterstellen berufen und traten als Anwälte für ihre Klienten in Erscheinung. Am 27. März 1638 wurde die erste österreichische Anordnung erlassen; die Zahl der Advokaten, ihr Einfluß und ihr Ansehen blieben jedoch gering.
Die Reformen Maria Theresias, die erweiterte staatliche Aufgaben und einen größeren Beamtenkörper zur Folge hatten, erweckten das Bedürfnis des Bürgertums, sich gegen Eingriffe des Staates der Hilfe von Advokaten zu bedienen. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1781 enthält erstmals einheitliche Vorschriften für die Advokaten und bildet den Ausgangspunkt der modernen Advokatur. Das Doktorat an einer inländischen Universität, Rechtspraxis bei einem Advokaten und die Advokatenprüfung waren neben Rechtschaffenheit Voraussetzungen für die Berufsausübung; eine Zulassung oder Ernennung war nicht mehr erforderlich (Aufhebung der eingeschränkten Zahl der Advokaten [„Generale" von 22. Mai 1781]), doch keine entscheidende Liberalisierung (Lokalisierungszwang, richterliche Observanz in der Prozeßführung unter anderem).
In der Zeit der Aufklärung kam es zu einer Verbindung des Rechtswesens mit Philosophie und Literatur. 1782 wurde für unbemittelte Angeklagte die Ex-offo-Vertretung eingeführt. Die Magistratsordnung 1783 brachte die Schaffung des städtischen Kriminalgerichts. Im Vormärz wurde die Freiheit der Advokaten Schritt für Schritt eingeschränkt (ab 1818 Beschränkung der Zulassungen [für Wien mit Hofdekret von 8. März 1822]; in Wien gab es [bis zur Advokatenordnung von 6. Juli 1868!] 80 Stellen; Übertragung der Advokatenernennungen vom Kaiser an die Oberste Justizstelle [allerhöchste Verfügung von 2. Mai 1826], womit sich gegenüber den Spitzenbeamten, die weiterhin vom Kaiser ernannten wurden, eine Deklassierung ergab).
Zur selben Zeit sammelten sich Industrielle und Kaufleute im „Niederösterreichischen Gewerbeverein", jene Männer hingegen, die in den folgenden Jahrzehnten die Geschicke des Staates entscheidend beeinflussen sollten, im 1841 gegründet Juridisch-politischen Leseverein, dem in großer Zahl Staatsbeamte, Advokaten und sonstige Juristen angehörten (darunter sechzehn spätere Minister). Seit dem Vormärz sind Juristenbälle bekannt.
Das Revolutionsjahr 1848, in dem die Advokaten eine bedeutende Rolle gespielt haben, brachte für den Advokatenstand eine entscheidende Wende; seine neue Bedeutung zeigt sich in der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1849 („Provinz Advokatenordnung" und Schaffung der Möglichkeit zur Bildung von Advokatenkammern [Konstituierung 1850]); Sitz der Wiener Kammer war ab 1853 das Ertlsche Stiftungshaus (1., Rotenturmstraße 13), in dem auch der Juridisch-politische Leseverein seinen Sitz gehabt hatte; erster Präsident wurde 1850 Eugen Alexander Megerle von Mühlfeld.
Die Strafprozeßordnung von 17. Jänner 1850 führte das Schwurgericht ein; die Advokaten hatten damit Gelegenheit, ihre Rednergabe im Plädoyer zu entfalten. Die Modernisierung der juridischen Studienordnung brachte das Studium auf wissenschaftliches Niveau. Mit der Advokatenordnung von 6. Juli 1868 wurde die freie Advokatur verwirklicht. Die „Hof- und Gerichtsadvokaten" waren ab 1861 im Gemeinderat stark vertreten, stellten zahlreiche Bürgermeister der Gründerzeit und fanden in der klassischen Ära des Liberalismus auch auf wirtschaftlichem Gebiet zahlreiche neue Aufgaben; die freie Presseberichterstattung verschaffte ihnen bei spektakulären Straf- und Zivilprozessen großen Bekanntheitsgrad und beachtliche Entfaltungsmöglichkeiten; auch die Vertretung im Reichsrat war zahlenmäßig beachtlich (1911: 63 Advokaten).
1918 wurden aus den Hofadvokaten republikanische Advokaten, 1919 erhielten diese den Titel Rechtsanwalt. Die 1919 gegründet Niederösterreiche Rechtsanwaltskammer führte ab 1924 den Namen Rechtsanwaltskammer in Wien, in deren Rahmen Dr. Julius Ofner für Kriegsopfer einen Unterstützungsfonds einrichtete, dem 1928 ein Versorgungsfonds folgte (Witwen- und Waisenversorgung, aus der sich die 1973 gesetzlich geregelte autonome Altersversorgung der Anwaltschaft entwickelte). Die erste Rechtsanwältin in Wien wurde in der ersten Republik Dr. Marianne Beth (Dr. jur. 12. Juni 1921).
In der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich wurden jüdische Rechtsanwälte ausgeschaltet, vertrieben oder ermordet.
Literatur
- Friedrich Kübl: Geschichte der österreichischen Advokatur. Wien: Österreichischer Rechtsanwaltskammertag ³1981 (Schriftenreihe des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, 3)
- 200 Jahre Rechtsleben in Wien. Advokaten, Richter, Rechtsgelehrte. 21. November 1985 bis 9. Februar 1986. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1985 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 96), insbesondere S. 197 ff. (Advokatur im Rechtsleben Wiens, S. 221 ff.)