Juridisch-Politischer Leseverein
48° 12' 35.87" N, 16° 22' 25.43" E zur Karte im Wien Kulturgut
Juridisch-Politischer Leseverein (1., Wollzeile 21-23, ab 1832 1., Rotenturmstraße 13).
Die 1840 von 40 Wiener Juristen für die juristische Weiterbildung durch Lektüre in- und ausländischer Zeitungen angestrebte Vereinsbildung wurde am 19. Juni 1841 von der Polizeihofstelle genehmigt. Entgegen den Statuten wurde in der Wiener Zeitung unmittelbar danach jedermann zum Beitritt aufgefordert und von Beginn an das äußerste Misstrauen der Polizeihofstelle geweckt. Die Leitung durch hohe Staatsbeamte bildete jedoch einen gewissen Schutz. Der Teilnehmerbeitrag von 10-20 Gulden sorgte für einen Abschluss nach unten. Der anfänglich hohe Anteil der Juristen (1843 über 50%) sank in der Folge ab (Zuwachs an Medizinern, Universitätsprofessoren, Bankiers, Industriellen und Geistlichen). Die Mitgliederzahl betrug 1841 60, 1847 211. In ständiger Auseinandersetzung mit der Zensurbehörde veranstaltete der Verein Vorträge (thematischer Ausgangspunkt waren das österreichische Strafrecht und seine kritische Betrachtung) und bot Lektüre der liberalen Zeitschriften Deutschlands und Frankreichs. Politische Debatten fanden aus Vorsicht nur in kleinen Gruppen statt. Der Großteil der Mitglieder vertrat die Idee einer Reform des Staats auf der Basis einer konstitutionellen Monarchie.
Bis März 1848 konnte sich der Verein zu keiner politischen Aktion durchringen. Am 13. März schloss er sich allerdings der Revolutionsbewegung an und bildete durch sein Ansehen bald deren Kern. Er übernahm die Ordnungsfunktion der „Volksbewaffnung" zum Schutz der besitzenden Klasse der Stadtbürger und forderte eine Konstitution. Nach der Pillersdorfschen Verfassung von 25. April waren die tonangebenden Mitglieder befriedigt, die revolutionäre und politische Rolle des Juridisch-Politischen Lesevereins beendet. Bezüglich der deutschen Frage wurde das großösterreichische Modell mit loserem Anschluss an Deutschland von den meisten Mitgliedern gefördert. Die im Vormärz zusammengekittete Opposition im Juridisch-Politischen Leseverein zerfiel jedoch nach 1848 in unterschiedliche politische Gruppen (demokratische Linke, liberale Mitte, konservative Rechte, Fraktionslose, Ungebundene, Unpolitische). Das im Oktober 1848 geschlossene Vereinslokal wurde in den 50er Jahren zwar wieder geöffnet, um den Verein war es jedoch still geworden. Geboten wurden laut Eigenwerbung eine „traditionelle Vereinigung von Rang", Bibliothek, Konversationsabende sowie „alle Bequemlichkeiten eines Clubs". Als Juristische Vereinigung war dem Juridisch-Politischen Leseverein mit der Gründung der Advokatenkammer 1850 eine Konkurrenz erwachsen. Im Gegensatz zu seinen politisch oft aktiven Mitgliedern blieb der Juridisch-Politische Leseverein auch 1918 unauffällig und unverändert bestehen. 1938 wurde er in den NS-Rechtswahrerbund eingegliedert, 1945-1949 wiederbelebt.
Die Mitgliederzahl (nach 1945 fast ausschließlich Rechtsanwälte) betrug 1919 245, 1962 63 und 1981 35. 1969 wurde die Bibliothek an die Universität von Alberta/Edmonton (Kanada) verkauft; der Erlös wird für Stiftungszwecke verwendet. Als Folge wurde der Verein 1971 zum juristisch-wissenschaftlichen Verein umgebildet, der die juristisch-wissenschaftliche Forschung (mit Hilfe der Veranstaltung von Vorträgen und Preisausschreiben [Dr.-Emmerich-Hunna-Preis, Journalistenpreis]) sowie die Unterstützung von in Not geratenen Personen zu Hauptzielen hat.
Literatur
- Wilhelm Brauneder: Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-Politische Leseverein zu Wien. 1840-1992
- Maren Seliger / Karl Ucakar: Wien. Politische Geschichte 1740 - 1895. Wien: Jugend & Volk 1985 (Geschichte der Stadt Wien, 1), S. 87 ff., S. 242 ff.
- Peter Csendes [Hg.]: Österreich 1790 – 1848. Kriege gegen Frankreich, Wiener Kongreß, Ära Metternich, Zeit des Biedermeier, Revolution von 1848. Das Tagebuch einer Epoche. Wien: Brandstätter 1987, S. 261