Streiks
Das letzte Kriegsjahr war in Wien durch eine weitere Verschärfung der anhaltenden Versorgungskrise gekennzeichnet. Nahrungs- und Heizmittel waren äußerst knapp und nur durch stunden- und nächtelanges Anstellen oder zu stark überhöhten Preisen am Schwarzmarkt zu haben. Zunehmend waren auch die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Rüstungsbetrieben, aber auch andere Berufsgruppen von Unterernährung und Hunger betroffen. Nachdem schon am 14. Jänner als Reaktion auf die Halbierung der Mehlquote, der zugeteilten rationierten Mehlmenge, Streiks im niederösterreichischen Industrieviertel ausgebrochen waren, griffen diese im Zuge der großen Jännerstreiks ab 16. Jänner auch auf Wien über. Insgesamt traten rund 113.000 Personen in den Ausstand. Am 21. Jänner flaute die Streikbewegung ab. Zu einer weiteren Streikbewegung kam es durch die Halbierung der Brotquote für Wien durch die Regierung am 16. Juni. Die Streiks hielten von 17. bis 26. Juni an. Der Erfolg der Streikbewegungen war auch darum äußerst gering, weil es generell an Nahrungsmitteln fehlte.
Influenza
Dank der Verschickung von über 100.000 Kindern im Sommer zu westungarischen Bauern konnte kurzfristig zumindest die Ernährungssituation für die Schulkinder verbessert werden. Im September 1918 näherte sich eine weitere Bedrohung für die unterernährte Wiener Bevölkerung: die "Spanische Grippe". Die Epidemie erreichte im Oktober ihren Höhepunkt und forderte unter Berücksichtigung von sekundären Lungenentzündungen etwa 6.000 bis 8.000 Opfer. Unter ihnen befanden sich auch einige Prominente wie der Maler Egon Schiele, der am 31. Oktober verstarb.
Gründung der Republik
Während die Inflation immer größere Dimensionen annahm und im Oktober das 14fache des Vorkriegspreisniveaus erreichte, bot das Völkermanifest von Kaiser Karl vom 16. Oktober den legalen Anlass zum Zusammentreten der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober im Niederösterreichischen Landhaus. Diese beschloss die Konstituierung des neu zu gründenden Staates "Deutschösterreich" am 30. Oktober. In weiterer Folge verzichtete Kaiser Karl am 11. November auf die Führung der Amtsgeschäfte, worauf am 12. November im Parlament feierlich die Republik ausgerufen wurde. Aufgrund eines kommunistischen Störversuchs brach unter den etwa 250.000 Teilnehmern an der Feier vor dem Parlament eine Panik aus und ein Schusswechsel forderte zwei Todesopfer.
Siehe Republikgründung.
Rätebewegung
Schon am 3. November hatten sich in Wien Soldatenräte konstituiert, die aus Wahlen unter den heimkehrenden Soldaten hervorgingen. Eine radikale Gruppe unter ihnen, die "Rote Garde" machte durch verschiedene Aktionen auf sich aufmerksam. Unterstaatssekretär Julius Deutsch versuchte durch die Aufstellung einer "Volkswehr" mit primär sozialdemokratischen Parteigängern, die militärische Kontrolle über die Stadt zu erlangen, was nur eingeschränkt gelang. Mittlerweile gelangten hundertausende Kriegsheimkehrer über die Wiener Bahnhöfe in ihre Heimat, wobei es den Eisenbahnern zumeist gelang, sie rasch durch das Stadtgebiet zu schleusen. Dennoch gab es einige Schusswechsel zwischen tschechischen und ungarischen Einheiten und der Volkswehr. Auf den Bahnhöfen wurde von den Soldaten Kleinhandel betrieben. Nach rund zwei Wochen war der Spuk vorbei.
Versorgungslage
Da Industrie-, Gewerbe- und Handelsbetriebe mangels Rohstoffen und aufgrund der Kohlenkrise nur wenig produzieren konnten, waren tausende Heimkehrer ohne Arbeit. Die Regierung versuchte durch Auszahlung von Arbeitslosenunterstützungen ab dem 18. November, diese zu besänftigen. Bis Ende des Jahres stieg die Zahl der Arbeitslosen auf rund 70.000. Inzwischen wurde die Versorgungslage immer trostloser, da die Nachfolgestaaten der Monarchie Lieferungen stoppten und die Entente die Blockade weiter aufrechterhielt. Erst gegen Ende des Jahres trafen erste Lebensmittelhilfslieferungen aus der neutralen Schweiz in Wien ein.
Flüchtlinge
In der Stadt befanden sich gegen Kriegsende noch rund 30.000 zumeist jüdische Kriegsflüchtlinge. Zu ihnen stießen Pogromflüchtlinge aus Osteuropa. Zudem setzte auch eine Zuwanderungswelle von deutschsprachigen Beamten aus den ehemaligen Kronländern ein. Dieser Zuzug verschärfte den Versorgungsnotstand weiter. Vor allem ein Teil der osteuropäischen Flüchtlinge lebte unter miserablen hygienischen Bedingungen in Kellerwohnungen und anderen Elendsquartieren. Sie waren zudem einer Welle von Antisemitismus unter der autochthonen Bevölkerung ausgesetzt.
Literatur
- Edgar Haider: Wien 1918. Agonie der Kaiserstadt. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2018
- Maureen Healy: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I. Cambridge: ambridge University Press 2004 (Studies in the social and cultural history of modern warfare, 17)
- Alfred Pfoser / Andreas Weigl [Hg.]: Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien: Metroverlag 2013
- Andreas Weigl: Mangel – Hunger – Tod. Die Wiener Bevölkerung und die Folgen des Ersten Weltkriegs. Wien: Verein für Geschichte der Stadt Wien 2014 (Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/2014)