Im 17., 18. und im dritten Viertel des 19. Jahrhundert traten häufig Pockenepidemien in Wien auf. Im Jahr 1753 entfielen 15% aller Verstorbenen auf die Pocken. Viele Todesfälle forderten auch die Epidemien von 1777, 1784, 1786, 1787, 1790, 1794, 1796 und 1800. Jährlich entfielen 18% aller Sterbefälle auf diese Krankheit.
Die Todesfälle betrafen überproportional Kinder, doch auch immer wieder Erwachsene. Die habsburgischen Herrscher König Ferdinand IV. und Kaiser Joseph I. starben an den Pocken. Drei Töchter Maria Theresias und beide Gattinnen Josephs II. starben an der Krankheit; an der zweiten Frau Josephs infizierte sich 1767 sogar Maria Theresia selbst, überstand die Krankheit aber, wenn auch durch Narben entstellt.
1768 brachte der Holländer Jan Ingen-Housz die Methode der Variolisation (Einimpfung echten Pockeneiters) nach Wien. Maria Theresia ließ von ihm mehrere ihrer Kinder erfolgreich impfen. 1796 entwickelte Edward Jenner in London die Methode der Überimpfung von Kuhpockeneiter (Vaccination), die 1799 nach Wien gelangte, wo sie von Pasqual Joseph Ferro, dem Sanitätsreformer bei der Niederösterreichischen Landesregierung, Jean de Carro und Aloisio (Luigi) Careno verbreitet wurde (erste Stadt auf dem europäischen Kontinent). 1802 wurde an der medizinischen Klinik im Allgemeinen Krankenhaus unter der Leitung von Johann Peter Frank die erste öffentliche Impfung durchgeführt. 1802 wurde die Variolisation verboten, in der Findelanstalt und im Kinderkrankeninstitut wurden die ersten Impfstellen (Vaccination) Österreichs eingerichtet.
Am Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Pocken- (Blattern-)mortalität nicht zuletzt auf Grund der Einführung der Kuhpockenimpfung schlagartig zurück. In den Jahren 1802 bis 1804 waren nur ganz wenige Blatterntodesfälle festzustellen. Damit war die Krankheit aber keineswegs ausgerottet. Das lag daran, dass in Teilen der Bevölkerung Skepsis und Ängste vor einer Erkrankung durch die Impfung herrschten. Von 1830 bis 1860 fielen die Pockenepidemien eher schwach aus. Doch ab den 1860er Jahren nahm die Pockensterblichkeit wieder zu. Einen späten Höhepunkt erlebte die Blatternmortalität durch die pandemische Ausbreitung dieser Krankheit im Jahr 1871 im Zuge des deutsch-französischen Krieges. 1872 erreichte die Epidemie Wien. Von den rund 20.000 an Blattern Erkrankten starben noch im selben Jahr 3.334 Menschen; im Jahr darauf infolge einer Nachepidemie weitere 1.410.
Im späten 19. Jahrhundert gelang es mittels verpflichtender Impfungen von Schulkindern die Gefahr durch diese Krankheit in Wien praktisch zu beseitigen. Am Beginn des 20. Jahrhunderts traten Sterbefälle nur noch selten auf und nach dem Ersten Weltkrieg kein einziger Fall mehr.
Literatur
- Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u.a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 28 ff.
- Anton Johann Rechberger: Vollständige Geschichte der Einimpfung der Blattern in Wien nebst der besten Art selbe vorzunehmen. Wien: Gräffer u. Comp. 1788
- Blatternimpfungs-Anstalt. In: Wiener Zeitung, Nr. 22/1799, S. 6 f.
- Jean de Carro: Observations et experiences sur l'inoculation de la vaccine. Wien: Kurtzbeck|Kurzböck 1801
- Joseph von Portenschlag: Ein Beytrag zur Geschichte der Kuhpocke in Österreich. Wien: Kurtzbeck 1801
- Pascal Joseph von Ferro: Circulare von der k. an die k. k. Landesregierung in Österreich unter der Enns. Die Schutzpockenimpfung wird dringend empfohlen. In: Wiener Zeitung 1805.,Anhang zu Nr. 104, S. 5613
- Marius Kaiser: Edward Jenner und sein Einfluß auf die Blatternschutzimpfung in Österreich. In: Wiener klinische Wochenschrift 58 (1946), S. 301 ff.
- Leopold Schönbauer: 150 Jahre Blatternschutz. In: Wiener klinische Wochenschrift 58 (1946), S. 305 ff.
- Dr. Pasqual Josef Ritter von Ferro, der Begründer der Kuhpockenimpfung in Österreich. In: Das österreichische Sanitätswesen 8 (1896), S. 438 ff.
- Gustav Hay: Jenner und die Blattern-Schutzimpfung. In: Wiener medizinische Wochenschrift 46 (1896), S. 885 ff.
- Eugen Stransky: Beiträge zur Geschichte der Pockenschutzimpfung in Wien. Wien: Ars medici 1937 (Wiener medizingeschichtliche Beiträge, 3, Abschnitt 1)
- Helmut Wyklicky: Die Beschreibung und Beurteilung einer Blatternerkrankung im Jahre 1711. In: Wiener klinische Wochenschrift 69 (1957), Nr. 51
- Helmut Wyklicky: Zur Geschichte der Impfung. In: Österreichische Ärztezeitung. Organ der Österreichischen Ärztekammer 41/1987, S. 359 f.
- Emil Marringer: Bericht über die Blatternepidemie in Wien im Jahr 1907. In: Österreichische Ärztezeitung. Organ der Österreichischen Ärztekammer 21/1908, Nr. 11.
- Andreas Weigl: Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 1), Wien: Pichler-Verlag 2000
- Andreas Weigl: Wien im epidemiologischen Übergang: ein mitteleuropäischer Weg in die Moderne. In: Jörg Vögele, Wolfgang Woelk (Hg.): Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert) (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 62), Berlin: Dunker & Humblot 2000, 159-185