Ernst Lothar
Ernst Lothar (eigentlich Lothar Ernst Müller), * 25. Oktober 1890 Brünn, Mähren (Brno, Tschechische Republik), † 30. Oktober 1974 Wien, Jurist, Schriftsteller, Regisseur.
Biografie
Ernst Lothar kam als Lothar Ernst Müller in Brünn zur Welt. Er war der dritte Sohn des jüdischen Rechtsanwalts Walter Müller und dessen Frau Johanna (geborene Wohlmuth). Seine um zwölf beziehungsweise acht Jahre älteren Brüder waren Robert und Hans Müller, letzterer wurde ebenfalls als Autor und vor allem als Dramatiker unter dem Namen Hans Müller-Einigen bekannt.
Lothar besuchte das "Erste Deutsche Staatsgymnasium" in Brünn, bevor die Eltern mit dem Jahreswechsel 1904/1905 nach Wien übersiedelten. Nach der Matura am Franz-Joseph-Gymnasium nahm er in Wien das Studium der Rechtswissenschaften auf, das er am 23. März 1914 mit der Promotion abschloss. Das Rigorosum legte er beim berühmten Staats- und Verfassungsrechtler Edmund Bernatzik ab. Noch im selben Jahr trat Ernst Lothar am Wiener Oberlandesgericht in den Staatsdienst ein. Bei Kriegsausbruch meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger zum k. u. k. Dragonerregiment No. 6, wurde aber bald für "kriegsunfähig" erklärt und ging als Staatsanwaltsstellvertreter ins oberösterreichische Wels. Im November 1918 wechselte er ins Handelsministerium. Dort war er führend an der Gründung der Wiener Messe und zudem an der Einrichtung der Hochschule für Welthandel beteiligt. Als Beamter brachte er es bis zum Sektions- und Ministerialrat, darüber hinaus wurde ihm anlässlich seiner vorzeitigen Pensionierung der Amtstitel Hofrat verliehen.
Schriftstellerische Ambitionen beschäftigten ihn schon während des Studiums. Als Autor literarischer Arbeiten publizierte Ernst Lothar, der unter Meidung des Nachnamens ein Pseudonym annahm, das aus seinen beiden Vornamen bestand, Prosa und Lyrik in bekannten Periodika; in großen deutschsprachigen Blättern publizierte er als Feuilletonist und Rezensent. Noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen bei Reinhard Piper in München die Gedichtbände "Der ruhige Hain" (1910) und "Die Rast" (1913) sowie der Novellenband "Die Einsamen" (1912). Mit Kriegsausbruch lieferte Lothar zunächst – wie viele andere Kollegen – Texte ab, die pure Kriegspropaganda darstellten, wie "Italien" (Wien / Leipzig: Kamönenverlag 1915). Doch mit der Zeit scherte er aus den Reihen der kriegsbejahenden Schriftsteller aus und begann die Arbeit an dem kriegskritischen Text "Der Feldherr" (Leipzig: Freytag & Tempsky 1918). Für dieses Romandebüt erhielt er 1920 den Bauernfeldpreis.
Auch parallel zu seiner Beamtentätigkeit lebte Ernst Lothar die Berufung zum Schriftsteller aus. In seiner Autobiografie nennt er es "Dichten in Akten". Sein literarisches Portfolio erweiterte er 1922 sogar auf das Feld des Theaters: Sein Stück "Ich!" wurde am Raimundtheater uraufgeführt. Allerdings war ihm kein Erfolg beschieden und es blieb das einzige Stück aus seiner Feder, das zu Lebzeiten inszeniert wurde. Als Prosaautor konnte er noch berufsbegleitend große Erfolge feiern, etwa mit dem Roman "Bekenntnis eines Herzsklaven" (Berlin: Ullstein 1923) oder mit dem Erzählungsband "Triumph des Gefühls" (Wien / Leipzig: Hartleben 1925). Im Zentrum dieser Jahre steht freilich die Romantrilogie "Macht über alle Menschen" (München: Georg Müller), die zwischen 1921 und 1925 entstand. Sie besteht aus den Teilen "Irrlicht der Welt", "Irrlicht des Geistes" und "Licht".
Den Staatsdienst quittierte Ernst Lothar 1925. Freilich scheute er das Risiko einer Existenz als freier Schriftsteller, denn er trat in die Redaktion der Tageszeitung "Neue Freie Presse" ein, als Nachfolger von Hugo Wittmann. In der "Neuen Freien Presse" agierte er aber nicht nur als Kritiker von Kolleginnen und Kollegen, sondern es gelang ihm auch, eigene Texte unterzubringen, die später in Buchform auf den Markt kamen, so etwa "Gottes Garten. Ein Buch von Kindern" (Wien: Speidel 1927).
Einen weiteren signifikanten Sprung schaffte Lothar mit seinem Roman "Der Hellseher" (Berlin: Zsolnay 1928), dessen Übersetzung in den angloamerikanischen Ländern Erfolge feierte und überdies 1934 unter dem Titel "The Clairvoyant" verfilmt wurde. Ähnliches sollte ihm mit dem Zyklus "Die Menschenrechte" gelingen; mit diesem Mehrteiler konnte er auch die juristische Ausbildung nicht verhehlen. Der erste Band "Die Mühle der Gerechtigkeit oder Das Recht auf den Tod" (Wien: Zsolnay 1933), der das Thema Euthanasie in den Blick nimmt, wurde 1948 als "An Act of Murder" verfilmt und zählte 1949 zum Festivalprogramm von Cannes. Der zweite Band "Eine Frau wie viele oder Das Recht in der Ehe" (Wien: Zsolnay 1934) fokussiert das Thema Scheidung. Der dritte Band, der den Aspekt des Rechts auf den eigenen Körper in den Blick genommen hätte, konnte nach dem sogenannten "Anschluss" nicht mehr erscheinen.
Obwohl Ernst Lothar als Theaterautor nicht reüssiert hatte, machte er in den 1930er Jahren als Regisseur von sich reden, der erfolgreich Franz Grillparzer am Burgtheater inszenierte. Da er zeitweise auch als Anwärter auf den Posten des Burgtheaterdirektors gehandelt wurde, dürfte es nicht überrascht haben, dass er 1935 an der Seite von Max Reinhardt die Direktion vom Theater in der Josefstadt übernahm. Die Fortführung dieser Tätigkeit wurde jedoch durch den Einmarsch von Hitlers Wehrmacht in Österreich verhindert. Lothar flüchtete zu seinem Bruder Hans nach Einigen am Thunersee. In der Schweiz wurde er – wie viele andere Emigranten auch – mit Berufsverbot belegt. Im August 1938 ging die Flucht weiter nach Paris. Im April 1939 erreichte Ernst Lothar in Begleitung seiner Frau und seiner Mutter schließlich mit der "Isle de France" die USA.
In New York blieb er der Bühne treu und begründete 1940 gemeinsam mit Raoul Auernheimer "The Austrian Theatre", das mangels Nachfrage bereits im Jahr darauf wieder schließen musste. Ebenfalls 1941 verlor er die deutsche Staatsbürgerschaft. Seinen Lebensunterhalt verdiente er unter anderem mit Dozententätigkeiten an verschiedenen US-Colleges, eine Festanstellung erhielt er als Dozent für Dramaturgie und Theatergeschichte in Colorado Springs (1941–1943).
Auf derlei Tätigkeiten wäre Ernst Lothar bald nicht mehr angewiesen gewesen, weil er zu den wenigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern des Exils zählte, die im Gastland zu Bestsellerautoren wurden, obwohl er – etwa im Vergleich zu Klaus Mann – keinen Sprachwechsel vornahm. Trotzdem wurden seine fünf Romane, die zwischen 1941 und 1945 zunächst in englischer Übertragung im Verlag Doubleday in New York erschienen, allesamt zu großen Verkaufsschlagern. Zwei von diesen Titeln, "Der Engel mit der Posaune" und "Heldenplatz", erschienen noch als deutschsprachige Originale in Übersee (beide Cambridge/Mass.: Schoenhof 1945). Die Romane "Die Zeugin" (Wien: Danubia 1951), "Unter anderer Sonne" (Hamburg / Wien: Zsolnay 1961) und "Die Tür geht auf" (Wien: Zsolnay 1950) fanden auf Deutsch erst später einen Verleger. Vor allem die Generationengeschichte "Der Engel mit der Posaune" wurde zum internationalen Erfolg, der zudem zwei Mal verfilmt und bei den Festspielen von Venedig gezeigt wurde.
1946 zog Lothar, seit 1944 US-Staatsbürger, noch einmal die Uniform an, um als "Theatre and Music Officer" im Rang eines Oberstleutnants und im Auftrag des Information Services Branch in die Heimat zurückzukehren. Dort erfuhr er vom Tod seines Bruders Robert, der am 11. Jänner 1941 nach Riga deportiert worden war. Zwei Jahre lang kümmerte sich Ernst Lothar um die Entnazifizierung der Theaterszene und den Wiederaufbau des Bühnenlebens in der US-Zone Österreichs, dazu zählten auch die Salzburger Festspiele, bei denen er mit den Fällen Herbert von Karajan, Werner Krauß und Paula Wessely zu tun hatte.
Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst entschied er sich dafür, im Land zu bleiben. Ernst Lothar hatte einen Vertrag mit den Salzburger Festspielen abgeschlossen; die Premiere seiner Inszenierung des Trauerspiels "Des Meeres und der Liebe Wellen" von Grillparzer fand am 29. Juli 1948 statt. Um die US-Staatsbürgerschaft nicht zu gefährden, reisten Lothar und seine Frau jedoch in die Staaten zurück. Mit verlängertem Pass kehrten beide wieder. Um diese Zeit legte Ernst Lothar seinen autobiografischen Roman "Die Rückkehr" (Salzburg: Das Silberboot 1949) vor. Zudem nahm er seine Tätigkeit als Regisseur wieder auf: am Burgtheater und am Theater in der Josefstadt. Zwischen 1952 und 1959 inszenierte er zudem den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen.
Mit Datum vom 16. August 1955 ließ sich Ernst Lothar repatriieren. Bis 1962 war er Oberspielleiter am Burgtheater und auch als Theaterkritiker wurde er wieder aktiv. Ohne Zweifel ein Höhepunkt des Genres ist seine Autobiografie "Das Wunder des Überlebens" (Hamburg / Wien: Zsolnay 1960). Jüngst erfreute sich Ernst Lothar einer Art Wiederentdeckung, nachdem die vom Verlag Zsolnay initiierten Neuausgaben seiner Bücher "Der Engel mit der Posaune" (2016), "Die Rückkehr" (2018) und "Das Wunder des Überlebens" (2020) mit prominenten Nachworten von Eva Menasse, Doron Rabinovici und Daniel Kehlmann für Aufsehen gesorgt haben.
Ernst Lothar war in erster Ehe mit Mary Helene Sachs des Renaudes verheiratet (1914–1933), aus dieser Verbindung gingen die jung verstorbenen Töchter Agathe (1915–1933) und Johanna (1918–1945) hervor. Am 22. Mai 1933 – rund vier Wochen nach seiner Scheidung – heiratete Lothar die Schauspielerin Adrienne Gessner im Beisein der Trauzeugen Raoul Auernheimer und Hugo Thimig.
Im Vorraum der Foyer-Galerie des Burgtheaters (Volksgartenseite) befindet sich die von Wander Bertoni abgenommene Totenmaske Lothars.
Quellen
Literatur
- Jasmin Centner / Carla Swiderski: Nachexil, Staatsbürgerschaft und affektive Zugehörigkeit – das Dilemma mit der Nationalität. Eine Relektüre von Ernst Lothars und Hilde Domins Schriften mit Judith N. Shklars politischer Theorie. In: Exilforschung 38 (2020), S. 15–40
- Jan Koneffke: Das Wunder des Überlebens. Zur Wiederentdeckung Ernst Lothars. In: Literatur und Kritik 55 (2020), 547/48, S. 52–59
- Dagmar Heißler: Ernst Lothar. Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender. Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2016 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen 25)
- Oliver Rathkolb: Ernst Lothar – Rückkehr in eine konstruierte Vergangenheit. Kulturpolitik in Österreich nach 1945. In: Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945. Hg. von Jörg Thunecke. Wuppertal: Arco 2006, S. 279–295
- Donald G. Daviau / Jorun B. Johns: Ernst Lothar. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York, Teil 1–2,1. Bern / München: Saur 1989 (= Studien zur deutschen Exilliteratur), S. 520–553
- Edda Fuhrich-Leisler: Vom Wunder des Überlebens. Ernst Lothar als Theaterdirektor in Wien (1935–1938). In: Geschichte und Gegenwart 3 (1988), S. 213–222
Ernst Lothar im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.