Freidenkerbund
Ziele
Freidenker, Vertreter einer weltanschaulichen Bewegung mit atheistischer Ausrichtung, befürworten eine eigenverantwortliche Lebensplanung, frei von festgefahrenen religiösen Denkmustern und kirchlichen Dogmen. Seit dem späten 19. Jahrhundert organisierten sie sich in verschiedenen Vereinen, die vor allem für die Trennung von Kirche und Staat, die Abschaffung des Religionsunterrichts an den Schulen und die Zulassung der von der Kirche abgelehnten Feuerbestattung eintraten.
Vereinsgründungen
1887 wurde in Wien der "Verein der Konfessionslosen" gegründet, in dem sich Liberale und Sozialdemokraten bemühten, den Einfluss der Kirche auf Staat und Schule einzudämmen. Mehrmals umbenannt, erhielt der Verein 1921 schließlich den Namen "Freidenkerbund Österreichs". Seit 1895 gab er eine eigene Zeitschrift heraus, die ab 1903 unter dem Titel "Der Freidenker" erschien.
Enge Zusammenarbeit bestand mit Organisationen, die ähnliche Ziele anstrebten, darunter:
- dem Verein "Freie Schule" (Beseitigung des kirchlichen Einflusses auf das öffentliche Schulwesen)
- dem "Eherechtsreformverein" (radikale Reform des Eherechts, Ehescheidung)
- der "Ethischen Gesellschaft" (humanistische Gesellschaftspolitik, Erziehung ohne Religion)
- dem Verein "Die Flamme" (für die Feuerbestattung; ein großer Erfolg war die Eröffnung des Krematoriums 1922).
Freidenker und Sozialdemokratie
In Wien waren viele Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei Freidenker, wenn auch nicht unbedingt Vereinsmitglieder. Der Obmann des Freidenkerbunds Ludwig Wutschel war ab 1906 Mitglied des Gemeinderats. Die Tätigkeit des Freidenkerbunds war jedoch auch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei nicht unumstritten, weil diese zwar ebenfalls die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche bekämpfte, den Kampf gegen die Religion jedoch mit der Begründung ablehnte, dass Religion Privatsache sei und nichts mit klerikaler Kirchenpolitik zu tun habe.
Um die Mitte der 1920er Jahre erreichte die Freidenkerbewegung ihren Höhepunkt, vor allem in den Großstädten und Industriegebieten. Diese Jahre standen im Zeichen der intensiven Werbung für den Austritt aus der Kirche, insbesondere nach der Julidemonstration 1927. Der Verein hatte damals rund 45.000 Mitglieder in zirka 300 Ortsgruppen; 1932, ein Jahr vor seiner Auflösung, waren es rund 65.000.
1948 erfolgte die Neugründung des "Freidenkerbundes Österreichs" (FBÖ). Eine Wiedergründung im Sinne der Rechtskontinuität mit dem 1933 verbotenen Freidenkerbund wurde von Innenminister Oskar Helmer abgelehnt, weshalb dem neugegründeten Verein das beschlagnahmte Vermögen nicht zurückerstattet wurde. Von Seiten der SPÖ, die auf ein gutes Verhältnis zur ÖVP bedacht war, erhielt der Verein keine Unterstützung mehr.
In den folgenden Jahren verlor der Freidenkerbund an Bedeutung und versank in personellen Streitigkeiten. Die Kirche hatte sich aus der Politik zurückgezogen und stellte somit für die Freidenker keine Herausforderung mehr dar. 1970 wurde die Auflösung des Bundes und seine Überführung in das "Institut für Geistesfreiheit und wissenschaftliche Weltanschauung" beschlossen. 1978 wurde der "Freidenkerbund Österreichs" mit dem Beinamen "Institut für wissenschaftliche Weltanschauung" wiedergegründet. 1984 wurde auch das Bundesorgan "Der Freidenker – Geist und Gesellschaft" neu gestaltet.
Publikationen
- Der Freidenker. Organ der Freidenker Österreichs, 1903–1970 (mit Unterbrechungen)
- Der Freidenker – Geist und Gesellschaft, 1984–laufend.
Quellen
Literatur
- Karl Becker: Freigeistige Bibliographie. Ein Verzeichnis freigeistiger, humanistischer und religionskritischer Literatur. Stuttgart: Verlag der Freireligiösen Landesgemeinde Württemberg 1973
- Angelo Carraro: Erlösung ohne Gott und Kirche, Wien: Freidenker-Verlag 1920
- Zyrill Fischer: Die proletarischen Freidenker. Innsbruck-Wien: Tyrolia 1930
- Karl Frantzl: Gesetze und Vorschriften über konfessionelle Angelegenheiten in der Republik Österreich. Eine Kritik und Anleitung für Freidenker. Wien: Verlag des "Freidenkerbund Österreich" 1924
- Friedrich Heyer [Hg.], unter Mitarbeit von Volker Pitzer: Religion ohne Kirche. Die Bewegung der Freireligiösen. Ein Handbuch. Stuttgart: Quell Verlag 1977
- Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik. Stuttgart: Klett-Cotta 1981
- Walter und Anna Lindemann: Die proletarische Freidenker-Bewegung. Geschichte, Theorie, Praxis. Münster: Lit Verlag 1981
- Hugo Pepper: Bildungs- und Kulturarbeit. In: Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u. a.]: Jugend & Volk 1988, S. 141-144
- Franz Sertl: Die Freidenkerbewegung in Österreich im zwanzigsten Jahrhundert: Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte freigeistiger Kulturorganisationen. Wien: Facultas 1995
- Georg Spitaler: „Im gegenwärtigen Zeitpunkte dringend notwendig“: Etappen zur Auflösung des Freidenkerbundes. In: Bernhard Hachleitner / Alfred Pfoser / Katharina Prager / Werner Michael Schwarz [Hg.]: Die Zerstörung der Demokratie. Österreich, März 1933 bis Februar 1934. Salzburg / Wien: Residenz Verlag 2023, S. 172–177