Julidemonstration
Julidemonstration. Das Urteil im Schattendorfer Prozess führte am 15. Juli 1927 zu Massendemonstrationen in Wien und schließlich zum Justizpalastbrand.
Schattendorf
Am 30. Jänner 1927 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Schutzbündlern und Frontkämpfern im burgenländischen Schattendorf. Gegen 16 Uhr schossen die Frontkämpfer Hieronimus und Josef Tscharmann sowie Johann Pinter ohne ersichtlichen Grund in eine Gruppe vorbeimarschierender Schutzbündler, verletzten fünf Personen schwer und töteten den achtjährigen Josef Grössing und den 40-jährigen Kriegsinvaliden Matthias Csmarits. Der Schwurgerichtsprozess fand in der ersten Julihälfte 1927 in Wien statt und endete mit einem Freispruch der durch Indizien schwerst belasteten Täter.
Zur angespannten innenpolitischen Situation kam ein politisch motivierter Prozess in den USA, wo wenige Monate zuvor die Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti nach einem jahrelangen Prozess wegen doppelten Raubmordes zum Tode verurteilt worden waren. Trotz fragwürdiger Indizien und entlastenden Zeugenaussagen hielt die Justiz an ihrem Urteil fest. Aufgrund der offensichtlichen Parteilichkeit des Richters kam es zu heftigen internationalen Protesten, die auch in Wien ihren Widerhall fanden. Noch am 11. Juli berichtete die Arbeiterzeitung ausführlich über den Fall. Das Urteil im Schattendorfer Prozess verstärkte den Eindruck einer politisch motivierten Klassenjustiz, die sich gegen die Arbeiterschaft richtete.
Demonstrationen
Der Chefredakteur der Arbeiterzeitung verfasste für die Morgenausgabe des 15. Juli einen in aller Deutlichkeit und schärfsten Worten gehaltenen Leitartikel gegen das offensichtliche Fehlurteil im Schattendorfer Prozess und warnte vor dem "schweren Unheil", das aus dem fortgesetzten Versagen der Justiz und der permanenten Verletzung fundamentalsten Rechtsempfindens entstehen müsse. Die Bediensteten der Städtischen Elektrizitätswerke traten um 8 Uhr in den Streik. Zur gleichen Zeit befanden sich bereits Tausende Demonstranten auf dem Anmarsch ins Stadtzentrum. Die spontan, ungeordnet und ohne Ordnerassistenz aus den Betrieben heranziehenden Massen trugen improvisierte Transparente mit Parolen wie "Protest dem Schandurteil" oder "Wir greifen zur Selbsthilfe" mit sich.
Gegen 9.30 Uhr ließ der überraschte und völlig überforderte Leiter des Polizeieinsatzes eine erste Reiterattacke gegen die Demonstranten unternehmen. Bis 11 Uhr hatte sich die mittlerweile unübersehbare Menge mit Steinen, Holzlatten und Eisenstangen bewaffnet und geriet in schwere Auseinandersetzungen mit den planlos vorgehenden Polizeieinheiten. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich um das Rathaus und den Justizpalast (Schmerlingplatz). Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mobilisierte den Schutzbund ohne Bewaffnung, wodurch dieser zwischen die Fronten geriet und die ihm zugedachte Ordnerfunktion in keiner Weise erfüllen konnte.
Justizpalastbrand
Einzelne Demonstranten erstürmten den Justizpalast, das verhasste Symbol der Klassenjustiz. Um 12.28 Uhr wurde die Feuerwehr von der Brandlegung verständigt. Gerüchte, wonach es sich dabei um bewusst agierende Mitglieder anarchistischer Gruppen gehandelt habe, konnten von der Forschung niemals verifiziert werden. Erst aufgeregte Interventionen seitens der sozialdemokratischen Parteiführung, darunter Bürgermeister Karl Seitz und Dr. Julius Deutsch, ermöglichten den Löschzügen ein langsames Durchkommen durch die tobende Menge. Die von Polizeipräsident Johann Schober mobilisierten Einheiten gingen in Panik und mit äußerster Brutalität vor, wogegen es einer Schutzbundeinheit unter Theodor Körner gelang, Richter, Beamte und Polizisten vor der Lynchjustiz zu retten.
Um 14.30 Uhr gab Schober Schießbefehl, worauf die Umgebung des Justizpalastes mit unvorstellbarer Grausamkeit "gesäubert" wurde. Die Bilanz der Unruhen waren 89 Tote, davon vier bei der Sicherheitswache. Über 1.000 Demonstranten und 120 Polizisten wurden schwer verletzt. Österreich stand an der Schwelle zum Bürgerkrieg. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Gewerkschaften kamen in Sondersitzungen überein, für den 16. Juli einen eintägigen Verkehrsstreik zu proklamieren, der allerdings (vor allem in den Ländern) durch den Einsatz der paramilitärischen Heimwehren schnell gebrochen werden konnte. Am 17. Juli verkündete die Exekutive, in ganz Wien herrsche wieder Ruhe.
Folgen
Die Folgen der Julidemonstrationen waren für das weitere Schicksal der ersten Republik fatal. Zwar hatte Karl Kraus, der die erschütternde Dokumentation der Ereignisse publizierte, Schober auf Plakaten öffentlich zum Rücktritt aufgefordert, der Sieg der bürgerlichen Regierung war allerdings offensichtlich. Eine Denunziations- und Verhaftungswelle erfasste rund 400 Personen, gegen die in einer wahren Prozesslawine bis Februar 1928 härteste Abschreckungsurteile gefällt wurden.
Die Sozialdemokraten hatten in ihrer Machtstellung Wien einen Disziplinbruch der Basis und eine politische Niederlage hinnehmen müssen, die in logischer Konsequenz zur Militarisierung und Entpolitisierung des Schutzbunds führte. In der Sondersitzung des Nationalrats von 26. Juli 1927, in der von der Regierungsmehrheit eine Parlamentarische Untersuchung der Vorfälle abgelehnt wurde, äußerte sich Bundeskanzler Seipel dahingehend, man werde bei den Demonstranten "keine Milde" walten lassen. In der Folge kam es zum verstärkten Anwachsen des Heimwehrfaschismus und zur Herausbildung einer latenten Bürgerkriegssituation in Österreich.
Gedenken
Am 11. Juli 2007 wurde von Bundespräsident Heinz Fischer eine Gedenktafel in der Halle des Justizpalastes enthüllt: "Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Republikanischen Schutzbundes und der Frontkämpfervereinigung im burgenländischen Ort Schattendorf am 30. Jänner 1927 wurden zwei unschuldige Menschen getötet. Die Täter wurden freigesprochen. Im Zuge einer gewaltsamen Demonstration gegen dieses Urteil wurde der Justizpalast in Brand gesetzt. Die Polizei erhielt Schießbefehl, und 89 Personen kamen ums Leben. Die Ereignisse dieser Zeit, die schließlich im Bürgerkrieg des Jahres 1934 mündeten, sollen für alle Zeiten Mahnung sein."
Quellen
- Strafsache gegen Josef Tscharmann, Hieronimus Tscharmann und Josef Pinter ("Schattendorf-Prozess"): Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen, A11: II Vr 411/1927
Literatur
- Gerhard Botz: Der 15. Juli 1927, seine Ursachen und Folgen. In: Österreich 1927 bis 1938. Protokoll des Symposiums in Wien, 23. bis 28. Oktober 1972. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1973 (Veröffentlichungen / Wissenschaftliche Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der Österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938, 1), S. 31 ff.
- Gerhard Botz: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstösse, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1938. München: Fink ²1983, S. 144 ff.
- Winfried R. Garscha, Finbarr McLoughlin: Wien 1927 - Menetekel für die Republik. Berlin: Dietz 1987.
- Sigrid Kiyem: Der Wiener Justizpalastbrand am 15. Juli 1927. Darstellung in Quellen und Medien. Diplomarbeit. Wien: Pädagogische Akademie des Bundes 2001.
- Margarete Kopp: Juliprozesse 1927 in Wien. In: Karl R. Stadler [Hg.]: Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870-1936. Wien [u.a.]: Europa-Verlag 1986, S. 235 ff.
- Norbert Leser, Paul Sailer-Wlasits: 1927 - Als die Republik brannte. Von Schattendorf bis Wien. Wien/Klosterneuburg 2002.
- Karin Masek: Schattendorf und der Justizpalastbrand 1927 im Spiegel der Wiener Tagespresse. Diplomarbeit. Universität Wien 2004.