Herausforderungen beim Bau des Röhrennetzes 1871
Bereits einige Monate nach dem Baubeginn zur Ersten Hochquellenleitung 1870 kam es zu Lieferschwierigkeiten durch Engpässe bei den beauftragten eisenerzeugenden Unternehmen, der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft (Alberthütte zu Kladno in Böhmen) sowie der Neuberg-Mariazeller Gewerkschaft in Mariazell. In Mariazell, wo die größten Röhren mit 36 Zoll Durchmesser bestellt worden waren, mussten die benötigten Gießvorrichtungen erst angeschafft werden. Die Lieferung der Röhren von der belgischen Gießerei Gambier & Comp. verzögerte sich durch die großen Ausschüsse, die beim Transport entstanden waren, sowie durch den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich. Ende Oktober 1870 bestand bei fast allen Röhrendimensionen ein erheblicher Rückstand, der sich auch auf die Verlegung der Röhren auswirkte.
Diese Rückstände konnten im zweiten Baujahr zwar zum Teil wieder ausgeglichen werden, allerdings zeigten sich nun bei den bereits verlegten Röhrensträngen Probleme mit der Druckbeständigkeit. Kritik an der Qualität des verwendeten Eisens, an der Art der Verlegung sowie den Wandstärken der Röhren wurde laut. Die Röhrenstärken waren 1865 von Experten berechnet und 1866 von einer unabhängigen Expertengruppe überprüft worden. Bezüglich der Qualität der Rohstoffe und des Gießprozesses hatte die Wasserversorgungskommission vorab eine Reihe von Normen erarbeitet. Diese wurden in der Praxis jedoch nicht eingehalten. So entsprach beispielsweise das eingesetzte Eisen nicht der geforderten Qualität, wie Untersuchungen zeigten. Das Bersten von über 600 Röhren beim Einbau wurde von oppositionellen Journalisten aufgegriffen und sorgte in der Öffentlichkeit bald für Beunruhigung.
Im Februar 1871 stufte auch der zuständige Ober-Ingenieur des Stadtbauamts, Carl Mihatsch, die Wandstärke der Röhren als zu schwach ein. Eine in Folge einberufene Expertenkommission attestierte am 27. Mai 1871 auf Grund der minderen Eisenqualität der aus Böhmen und Belgien gelieferten Röhren zu geringe Wandstärken für alle Röhren von mehr als 9 Zoll Durchmesser und verlangte deren Verstärkung. Dieses Urteil führte zu Differenzen in der Wasserversorgungskommission, wurde in den Medien aufgenommen und in Zusammenhang mit Berichten über Überschwemmungen und Häusereinstürze durch geborstene Wasserleitungen in anderen Städten gebracht. Die Bauarbeiten wurden vorerst eingestellt.
Am 31. Mai 1871 erstattete die Wasserversorgungskommission dem Gemeinderat umfassend Bericht. Es wurden weitere Untersuchungen beschlossen, unter anderem physische Tests der gelieferten Röhren, die Einholung weiterer Expertenmeinungen und die Veröffentlichung aller Ergebnisse, um das Vertrauen der Bevölkerung in das Bauprojekt wieder herzustellen. Der Bauunternehmer Antonio Gabrielli hatte seinerseits einen eigenen Experten, den Londoner Wasserleitungs-Ingenieur Quik, nach Wien eingeladen. Die Zuziehung weiterer Experten brachte allerdings vor allem weitere Meinungen ein, ohne Klarheit über das weitere Vorgehen und das tatsächliche Risiko zu bringen.
Am 29. August 1871 beschloss der Gemeinderat auf Antrag der Wasserversorgungskommission einen Personalwechsel in der II. Ober-Ingenieurs-Abteilung. Stadtbauamts-Ingenieur Carl Mihatsch, der eine Verstärkung der Röhren forderte, ersetzte Ober-Ingenieur Otto Wertheim, der an der bisherigen Dimensionierung festhielt. In Folge wurde am 1. Februar 1872 beschlossen, verstärkte Röhren ab einer Dimensionierung von 10 Zoll zu verwenden. Dies wurde mit dem großen Risiko, das ein Bersten der Röhren im Stadtgebiet darstellen würde, sowie mit der erhofften langen Nutzungsdauer höherqualitativer Röhren argumentiert.
Um den Wasserdruck in den Röhren der niedrig gelegenen Stadtteile zu senken und auch alle anderen verwendeten Bauteile zu entlasten, wurde die Errichtung eines zusätzlichen, niedriger gelegenen Wasserbehälters am Laaerberg und die Nutzung des bestehenden Reservoirs der Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung in Währing beschlossen. Hier hatten sich die Experten von den Höhenzonierungen anderer Städte mit großen Niveauunterschieden im Stadtgebiet inspirieren lassen. Von dieser neuen Zonierung würden auch die geplanten, tief gelegenen Stadtteile am Donaudurchstich profitieren, die nun ebenfalls an die Wasserleitung angeschlossen werden sollten.
Die Unterscheidung verschiedener Druckzonen und deren Versorgung durch nunmehr fünf anstelle von drei Wasserbehälter bedingte eine umfassende Umarbeitung des Bauprojekts. Aus Kostengründen wurde versucht, die bereits gelieferten Röhren an Stellen einzusetzen, die einem geringeren Druck ausgesetzt waren. Trotzdem betrugen die projektierten Mehrkosten rund 2 Millionen Gulden.
Im April 1872 konnten die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden. Die Arbeiten am Röhrennetz waren bei der Eröffnung der Ersten Hochquellenleitung 1873 aber noch nicht abgeschlossen. In den folgenden Jahren wurde es sukzessive erweitert.
Siehe auch: Erste Hochquellenleitung, Erste Hochquellenleitung (Zeitleiste), Wasserbehälter
Quellen
- Wienbibliothek, Amtliche Verhandlungen und Actenstücke in Bezug auf die Hochquellenwasserleitung 1861-1879: Bericht der von dem Gemeinderathe der Stadt Wien zur Prüfung der neuen Wasserleitungs-Röhren ernannten Experten-Commission. Wien: Selbstverlag der Experten-Commission Juni 1871, S. 414-488
- Wienbibliothek, Amtliche Verhandlungen und Actenstücke in Bezug auf die Hochquellenwasserleitung 1861-1879: Referat des Gemeinderathes Julius Fanta an die Bausektion über die Schlußanträge der Wasserversorgungs-Kommission in der Röhrenfrage, 18. November 1871, S. 516-524.
Literatur
- Rudolf Stadler: Die Wasserversorgung der Stadt Wien in ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Denkschrift zur Eröffnung der Hochquellen-Wasserleitung im Jahre 1873. Wien: Gemeinderat 1873, S. 258 ff.
- Otto Wertheim: Das Röhrennetz der Wiener Hochquellen-Wasserleitung: eine Denkschrift zur Abwehr der gegen dasselbe erhobenen Beschuldigungen. Leipzig: Felix 1872