Kinder- und Jugendfürsorge
Kinder- und Jugendfürsorge. Bis ins 18. Jahrhundert wurden Kinder und Jugendliche undifferenziert mit den sicherheits- und armenpolitischen Maßnahmen für Erwachsene diszipliniert. Für die Verwahrung und Versorgung in geschlossenen Anstalten waren keine speziellen Institutionen vorhanden. Arme, verwaiste und verwahrloste Kinder wurden entweder in die "Heimat" abgeschoben oder in kombinierte Zucht-, Arbeits-, Armen-, Waisen- und Irrenhäuser gesteckt. Die Anfänge einer gesonderten Armenkinderpflege resultierten aus den Reformen Maria Theresias, die unter anderem zur Gründung der ersten Waisenhäuser führten. Die Jugendpflege hatte im 18. Jahrhundert ansatzweise eine gesetzliche Verankerung im Armen-, Straf-, Schul- und Zivilrecht und somit eine tendenzielle "Verstaatlichung" erfahren, obgleich sich die traditionellen Formen öffentlicher Armenpflege durch die Heimatgemeinde bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hielt (Fürsorge). Die öffentliche Beschäftigung mit verwahrlosten Jugendlichen, Findel- und Waisenkindern lief bis in den Vormärz in den Bahnen der absolutistischen Armenpolitik. Die Errichtung von Waisenhäusern, Zwangsarbeitsanstalten für verwahrloste Jugendliche, gehörte zu den Kontrollmaßnahmen gegen die Auswirkungen von Armut. Die Erziehung zu Fleiß, Sittlichkeit und Arbeitslust wird als Hauptzweck betont. Für Fürsorgebemühungen im Sinn der Aufklärung, die auf der Grundlage des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches möglich gewesen wären, fehlten ökonomische Antriebe, politisches Interesse und die dafür erforderliche Bewußtseinslage. Die sozialen Probleme der Kinderarbeit begannen die Behörden erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, ohne jedoch über Beratungen hinauszureichen. Mit dem Aufstieg liberaler Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien setzte die Tendenz ein, den Opfern der industriekapitalistischen Entwicklung staatlicher Versorgung möglichst zu verweigern. Erwähnenswert sind lediglich die Kinderschutzbestimmungen der Gewerbeordnung (1859), die Neuformulierung des Strafrechts (1852), das Heimatrechtsgesetz (1863), die Organisation des Stadtphysikats durch die Gemeinde Wien (1864), das Reichsvolksschulgesetz (1869) und die gesetzliche Regelung des Sanitätsdienstes (1870). Der Bedeutungsverlust der Waisen-, Findel- und Besserungsanstalten wurde auch durch die Errichtung kommunaler Waisenhäuser (ab 1862) nicht revidiert. Erst im Zeichen einer professionalisierten spezifischen Jugendfürsorge im vierten Viertel des 19. Jahrhunderts, die sich weniger an den Unterschichtskindern als an den asozialen "Unangepaßten" orientierte, kam es zu einem neuerlichen Aufstieg des öffentlichen Anstaltswesens. Um die Jahrhundertwende traten Besserungs-, Erziehungs- und andere Sonderanstalten zu den an armenpolitische Traditionen des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpfenden Findel- und Waisenhäusern. Die Gemeinde Wien widmete ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts einen immer größeren Anteil des Budgets für Armenkinderpflege; dies entsprach dem allgemeinen Trend zu einer spezialisierten öffentlichen Jugendfürsorge, die vor allem für überdurchschnittlich konfliktträchtige Sonderfälle kompetent war (Waisenhäuser, Landesbesserungsanstalten), den Problemen des weitverbreiteten Jugendelends jedoch hilflos bis desinteressiert gegenüberstand. Die Grundlage für den Ausbau der städtischen Jugendfürsorge bildete erst der sogenannte "Ausbaubeschluß" des Gemeinderats vom 27. April 1917.
1. Republik
Die in Ansätzen vorhandene Jugendfürsorge wurde in drei Bereichen (Gesundheits-, Erziehungs- und Unterhaltsfürsorge) erweitert. In den 20er Jahren war die Arbeit der sozialdemokratischen Verwaltung durch die Fürsorgegrundsätze Julius Tandlers geprägt (Jugendamt). Betroffen waren alle Maßnahmen und Einrichtungen, die mittelbar und unmittelbar der Jugend zugute kommen: Erholungsfürsorge (weitere Hinweise dort), Mutterschutz und Jugendpflege (Mutterberatung, Kindergärten, Tageserholungsstätten, Horte, Spielplätze, Jugendsport, Schülerausspeisungen in den Schulen, Säuglingsfürsorge und anderes). Weitreichende Folgen ergaben sich 1928 aus der Erweiterung der Generalvormundschaft der Bezirksjugendämter bei unehelichen Kindern und aus dem Jugendgerichtsgesetz (Bundesgesetzblatt Nr. 234).
Nationalsozialistische Zeit
Viel Aufbauarbeit wurde durch die Nationalsozialisten zunichte gemacht; noch 1938 trat die "Verordnung über die Einführung der fürsorgerechtlichen Vorschriften" in Kraft. Als „Jugendschutzgesetz" galt das Gesetz über Kinderarbeit und die Arbeitszeit von Jugendlichen vom 30. April 1938, an dessen Vollziehung das Jugendamt mitwirkte. Am 20. März 1940 folgte die Verordnung über die Jugendwohlfahrt in der Ostmark (RGBl. 1, S. 519). Die "Schutzaufsicht der Minderjährigen" sollte zwecks intensiverer Betreuung durch den Helfer der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) ausgeübt werden. Der nationalsozialistischen Wohlfahrtsideologie entsprach die Errichtung der Anstalt "Am Spiegelgrund", die vielen Kindern das Leben kostete. Die meisten Ausbildungslehrgänge wurden von der NSV übernommen. Das "Wiener Jugendhilfswerk" hörte auf zu bestehen. Private Einrichtungen wurden von der öffentlichen Verwaltung übernommen (Heim Biedermannsdorf, Hyrtlsche Waisenhausstiftung in Mödling); das Kinderheim Hohe Warte wurde 1944 als Otto-Planetta-Haus von der HJ übernommen, um Jugendliche für den Fronteinsatz auszubilden.
2. Republik
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Neuaufbau des Jugendamts. Neben dem Kampf gegen Hunger und Kälte gehörte die Ausforschung und Rückführung der aus Wien evakuierten sowie die Erholungsverschickung unterernährter Kinder zu den wichtigsten Aufgaben. Bereits 1946 standen einheitliche pädagogische Richtlinien für die Führung von Kindergärten zur Verfügung; 1949 eröffnete der erste Sonderkindergarten "Schweizer Spende" (14, Auer-Welsbach-Park). Eine Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege beriet den Entwurf für ein neues Jugendwohlfahrtsgesetz (am 9. April 1954 in Kraft getreten); die ideologischen Bezüge waren im StGBl. vom 20. Juni 1945 gestrichen worden. Während der Betrieb im Zentralkinderheim weiterlief, wurde ein Teil der Jugendfürsorgeanstalten (Mödling, Hohe Warte, Eggenburg) von den Besatzungsmächten beansprucht. Als Zentren für die Verteilung ausländischer Hilfsgüter boten sich die Schwangeren- und Mutterberatungsstellen an. 1955 wurde das Wiener Jugendwohlfahrtsgesellschaft beschlossen (LGBl. Nr. 14), das die Jugendwohlfahrts-Verordnung von 1940 aufhob. Am 19. November 1945 begann der Unterricht in der Ausbildungsstätte der Fürsorgerinnen (der späteren "Fürsorgeschule der Stadt Wien", die 1947 das Öffentlichkeitsrecht erhielt und mit dem Bundesgesetz vom 25. Juli 1962 in die "Lehranstalt für gehobene Sozialberufe der Stadt Wien" umgewandelt wurde). Die Arbeitsbedingungen der Jugendlichen wurden durch das Kinder- und Jugendbeschäftigungsgesetz vom 1. Juli 1948 verbessert. Das am 27. September 1963 vom Wiener Landtag beschlossene Jugendschutzges. (LGB1. Nr. 23) löste die Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend vom 10. Juni 1943 ab. In der Zeit der wirtschaftliche Konsolidierung wurde es möglich, die Jugendfürsorge nach wiss. Erkenntnissen methodisch zu orientieren (vertiefte Einzelhilfe, "Casework"-Methode). Die Bedeutung des sozialen Umfelds wurde in zunehmendem Maß gewürdigt (sozialpolitische Maßnahmen und so weiter). Durch "Intensivbetreuung" suchte man die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen zu vermeiden und den Kontakt mit den Eltern zu intensivieren (sozialintegrativer Führungsstil mit Familiengruppen). Nach der Heimreform Anfang der 1970er Jahre besserten sich auch die Zustände in den Lehrlingsheimen. Es wurden Beratungsstellen für Jugendliche eingerichtet und neue Betreuungsformen (beispielsweise therapeutische Wohngruppen für dissoziale Jugendliche) geschaffen; man wendete sich von der Einzelkind- zur sozialen Gruppenbetreuung. Im Zuge der Rückführung des Kindes in die Familie kam der Pflegefamilie erhöhte Bedeutung zu. Seit den 1970er Jahren werden auch (neben der Errichtung weiterer Sonderkindergärten) Integrationsmodelle für behinderte Kinder erprobt und neue Konzepte für die Erholungsfürsorge erstellt, die den Kindern pädagogisch ausgerichtete Freizeitaufenthalte mit differenzierten Programmen anboten (seit 1976/1977 auch für Schwerstbehinderte). Die mit der Änderung des Adoptionsrechts 1960 eingeleitete Familienrechtsreform fand ihren vorläufige Höhepunkt in der Neuordnung der Rechtsstellung des unehelichen Kindes (1970); im Zuge der Änderung der Geschäftsfähigkeit und Ehemündigkeit (1973) wurde das Volljährigkeitsalter auf das vollendete 19. Lebensjahr herabgesetzt. Eine weitere Stufe wurde 1978 mit dem neuen Kindschaftsrecht erreicht. Der Schwerpunkt verlagerte sich seit den 60er Jahren vom schutzbedürft. Kind zunehmend auf Bildung, Jugend und Familie. Soziale Dienste (Hilfen, die der Entwicklung und Förderung der Familie dienen) stehen im Vordergrund. Es werden auch qualifizierte Ausbildungsmöglichkeiten geboten (beispielsweise 1951 Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, 1965 Schule für Säuglings- und Kinderpflegerinnen im Zentralkinderheim, 1976 Akademie für Sozialarbeit ([ehemalige Lehranstalt für gehobene Sozialberufe], 1978 Kindergärtnerinnenbildungsanstalt der Stadt Wien). Das Bundes-Jugendwohlfahrtsges. 1989 - Landesgesetz Wien (Gemeinderatsbeschluss vom 27. April 1990) trat am 1. Juli 1990 in Kraft; sein Schwerpunkt liegt in der vorbeugenden Hilfeleistung und Förderung des Übergangs zur partnerschaftlichen Ehe und Familie sowie zur partnerschaftlichen Beziehung zwischen den Generationen. Die Verlagerung des Schwerpunkts läßt sich auch aus Bezeichnungsänderungen ablesen (Eltern- statt Mutterberatung, Amt für Jugend und Familie statt Jugendamt).
Missbrauch in Kinderheimen
Die Stadt Wien begann im April 2010 nach Bekanntwerden von Gewalt- und Missbrauchsvorwürfen in Heimen der Stadt unverzüglich mit der Aufarbeitung des dunklen Kapitels der Wiener Jugendwohlfahrt. Das Projekt "Hilfe für Opfer von Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt" wurde ins Leben gerufen. Hierzu ist vor allem das Kinderheim Wilhelminenberg und die dazugehörige Kommission Wilhelminenberg zu nennen. Die Opferschutzeinrichtung Weisser Ring fungierte als Anlaufstelle und übernahm die Betreuung der Betroffenen sowie die unbürokratische Abwicklung der therapeutischen, rechtlichen und finanziellen Hilfestellungen. Der Weisse Ring behandelte über 2.700 Fälle. In rund 2.050 Fällen wurden finanzielle Unterstützungen und in über 1.580 Fällen die Kostenübernahme einer Psychotherapie beschlossen. Alle Betroffenen, die in Einrichtungen des Wiener Jugendamtes gelebt haben und dort Gewalt erleben mussten, konnten sich bei der Ombudsstelle der Kinder- und Jugendanwaltschaft melden. Insgesamt hat die Stadt Wien seit 2010 Mittel in Höhe von 52,53 Millionen Euro bereitgestellt. Damit leistete die Stadt Wien finanzielle Hilfestellung und übernahm die Kosten für Psychotherapie. Offene Fälle konnten bis Ende 2018 abgerechnet werden. Nach der Beendigung des Projekts "Hilfe für Opfer von Gewalt in Einrichtungen der Wiener Jugendwohlfahrt" leistete die Kinder- und Jugendanwaltschaft gemeinsam mit dem Psychosozialen Dienst Wien rechtliche und psychotherapeutische Hilfestellung für Heim-Opfer.
Quellen
Literatur
- Peter Feldbauer: Kinderelend in Wien. Von der Armenkinderpflege zur Jugendfürsorge. 1980
- Jugendamt der Stadt Wien (Hg.): 70 Jahre Wiener Jugendamt. 1987
- Jugendamt der Stadt Wien (Hg.): Gesellschaft, Jugend und Jugendwohlfahrt im Wandel der Zeit. 1988
- Maren Seliger / Karl Ucakar: Wien. Politische Geschichte 1896 - 1934. Wien: Jugend & Volk 1985 (Geschichte der Stadt Wien, 2), Register
- Wiener Schriften. Hg. vom Amt für Kultur, Schulverwaltung der Stadt Wien. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1955-1981 (Wiener Schriften 11), Register
- Ottakring. Ein Heimatbuch des 16. Wiener Gemeindebezirkes. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft für Heimatkunde in Ottakring. Wien: Schulbücherverlag 1924, S. 364 ff.