Kindergarten
Vorstufen
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm der Zustrom gewerblicher und industrieller Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter nach Wien massiv zu. Deren Kinderzahl, ob nun ehelich oder in Konkubinaten, war erheblich. Sie verfügten aber häufig über keine oder unzureichende häusliche Betreuungspersonen, zumal beide Elternteile in der Fabrik oder im Gewerbebetrieb tätig waren. Dies rief Stimmen auf den Plan, die vor der Vernachlässigung dieser Kinder warnten und aus humanistischen Motiven, vor allem aber um zum Zweck der Heranziehung "treuer" Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die Gründung von "Kinderbewahranstalten" betrieben. Im Jahr 1830 nahm die erste derartige Anstalt ihren Betrieb auf. Sie befand sich im Haus 3, Steingasse 16 (abgebrochen um 1870). Bereits 1831 wurde ein Zentralverein für Kleinkinderbewahranstalten in Wien mit Zweigvereinen in Landstraße, Wieden, Margareten, Neulerchenfeld, Hernals, Lichtental, Reindorf und Roßau gegründet. Diese Zweigvereine entstanden überwiegend in den Jahren 1830-1832, nur jene in Lichtental, Reindorf und Roßau 1845 und 1846. Die Anstalten nahmen Kinder zwischen zwei und fünf Jahren in der Zeit von 7 bis 19 Uhr auf. Die Kinder erhielten religiöse Unterweisung und durften bis zu einem gewissen Grad ihren Bewegungsdrang ausleben. Auch Gesang war vorgesehen.[1]
Private Kindergärten
Am 30. Jänner 1863 beschloss der Gemeinderat, dem Ansuchen Georg Hendels an die Niederösterreichische Statthalterei zur Errichtung des ersten Wiener Kindergartens zuzustimmen. Im Gegensatz zu den Kinderbewahranstalten für mittellose Kinder im Bereich der Humanitätsanstalten ("Kinder der arbeitenden Klassen zwecks Beaufsichtigung und Beschäftigung") sollte der Kindergarten den gehobenen Gesellschaftsschichten zur Verfügung stehen (Entlastung der Mütter, steigende Berufstätigkeit) und nach den Erziehungsmethoden Friedrich Fröbels (eines Schülers Pestalozzis) geleitet werden (im Bereich der Unterrichtsanstalten-Schulbehörde, oft gemeinsam mit Volksschule und Ausbildungsstätte für Lehrerinnen). Die meisten Kindergärten wurden von privaten Wohltätigkeits- und Humanitätsvereinen geführt und hatten nur wenige Stunden am Tag geöffnet. Ziele waren dabei, "die häusliche Erziehung der Kinder im vorschulpflichtigen Alter zu unterstützen und zu ergänzen" und auf den Volksschulunterricht vorzubereiten (RGBl. 108/1872). Die hohe monatliche Besuchsgebühr (ein bis zwei Gulden) verwehrte Arbeiterkindern den Zutritt. Für Kinder unter drei Jahren wurden Kinderkrippen eingerichtet.
Städtische Kindergärten
Die ersten öffentlichen Kindergärten wurden zwischen 1889 und 1893 geschaffen (der erste 11., Enkplatz 2). 1890 gingen durch die Eingemeindung der Vororte elf Kindergärten (für 1.110 Kinder) in die Verwaltung der Gemeinde Wien über.
Der Aufschwung der Kindergärten begann im April 1912 mit dem ersten österreichischen Kindergärtnerinnentag, der eine bessere Ausbildung forderte: Kindergärten sollten nicht nur eine Bildungs- und Erziehungsfunktion, sondern auch eine soziale Funktion erfüllen. 1912 stieg die Zahl der in städtischen Verwaltung stehenden Kindergärten auf 23 an. 1914 fiel das Heiratsverbot für städtische Kindergärtnerinnen. 1916 wechselte die Verwaltung von der Schulabteilung (Magistratsabteilung XV) zum Jugendamt (Magistratsabteilung XIIa) und wurde zu einer Fürsorgeeinrichtung.
Zum Ausbau des Kindergartenwesens kam es nach dem Ersten Weltkrieg unter Stadtrat Dr. Julius Tandler (Kindergärten als Ergänzung der Familienerziehung, Tendenz der "halboffenen Fürsorge" [Kinder arbeitsloser Eltern sollten aus ihrem trostlosen Milieu rausgenommen werden]). 1919 kamen die Kindergärtnerinnen in das Gehaltsschema der Gemeinde Wien. In den "Volkskindergärten" wurden (wegen der oftmaliger Berufstätigkeit beider Elternteile) im Gegensatz zu "Normalkindergärten" verlängerte Öffnungszeiten (Montag-Freitag 7-18 Uhr, Samstag 7-14 Uhr) und am 1. Oktober 1922 eine Essensversorgung eingeführt (Kinderausspeisung); bei Neugründungen wurde auf den örtlichen Bedarf und die Sozialstruktur des Stadtteils stärker Rücksicht genommen. Ab 1922 waren regelmäßige ärztliche Besuche vorgesehen. Die Aufnahme erfolgte über das Bezirksjugendamt. In der Zwischenkriegszeit wurden die Kindergärten zu Institutionen ausgebaut, in denen die Kinder ihre psychische Anlagen durch freie Betätigung entfalten konnten.
Der Kindergarten 1, Rudolfsplatz wurde als erster städtischer Kindergarten 1931 nach den pädagogischen Überlegungen der italienischen Ärztin Maria Montessori geführt. 1925 wurde nach den Ideen von Friedrich Fröbel ("Vater der Kindergartenpädagogik") der richtungweisende Kindergarten im Waldmüllerpark (10. Bezirk) eröffnet, dem jener in der städtischen Wohnhausanlage "Fuchsenfeld" (12. Bezirk) folgte. Mit dem Fortschreiten der städtischen Wohnbautätigkeit wurden aufgrund des entstehenden Bedarfs immer mehr Kindergärten in städtischen Neubauten eröffnet (1926 allein 32 neue Kindergärten), wodurch sich gleichzeitig auch eine Verlagerung in Arbeiterbezirke ergab. Ab 1927 wurden die Kindergärten von Kindergärtnerinnen geleitet (nicht mehr von Lehrern oder Schuldirektoren). Hatte es 1922 29 Kindergärten (für 5.871 Kinder) gegeben, so waren es 1925 57 (für 4.889 Kinder; darunter 33 Volkskindergärten), 1927 85 Kindergärten (darunter 71 Volkskindergärten) und 1928 90 Kindergärten (für 8.892 Kinder in 264 Gruppen); 1930 wurde der 100. städtische Kindergarten eröffnet, 1932 waren 111 Kindergärten in Betrieb (für 9.356 Kinder in 334 Gruppen). Das Besuchsgeld war mit zehn Gulden pro Woche bewusst niedrig gehalten. Die Aufwendungen für die Kindergärten stiegen von 2,15 Millionen Schilling (1924) auf 7,55 Millionen Schilling (1930), sanken dann aber aus budgetären Gründen bis 1933 auf 5,78 Millionen Schilling ab. Im Ständestaat trat eine deutliche Verringerung der Zahl der Kindergärten ein. Während sich die pädagogischen Zielsetzungen im Laufe der Zeit änderten, blieb die gesetzliche Grundlage für die Führung der Kindergärten das Reichsvolksschulgesetz 1869.
1945 wurden die Kindergärten und Horte, deren Führung am 1. September 1942 der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) übertragen worden war (die Gebäude blieben Eigentum der Gemeinde Wien, die Erziehung erfolgte im Sinn des NS-Regimes), in die Verwaltung des Jugendamts rückgeführt, die pädagogischen Ziele wurden neu definiert (Gründung des Pädagogischen Komitees, 1946). Nach Überprüfung der Kindergärtnerinnen auf ihre pädagogischen Grundsätze hin und Wiederaufnahme des von den Nationalsozialisten außer Dienst gestellten Personals wurden die Kindergärten und Horte ab Jänner 1946 wieder nach einheitlichen Richtlinien geführt. Arbeitsschwerpunkte 1946-1966 waren die Bildung von Übergangsgruppen zur Vorbereitung auf die Anforderungen der Schule (1953/1954 im Zusammenhang mit der Neuregelung der Schulpflicht für jene Kinder eingerichtet, die nach dem jeweils 1. September das sechste Lebensjahr vollendeten; aus ihnen entstanden ab 1970 die Vorschulklassen), die Entwicklung von Förderprogrammen (Arbeitsblätter von Baar-Tschinkel), die Arbeit mit behinderten und entwicklungsgefährdeten Kindern (zum Gedenken an die Hilfsorganisation "Schweizer Spende" entstand 1949 der erste Sonderkindergarten in 14., Auer-Welsbach-Park, der speziell auf die Betreuung und Förderung behinderter Kinder ausgerichtet war) und die Entwicklung der Kleingruppenarbeit (im Gegensatz zur kollektiven Wissensvermittlung) in Zusammenarbeit mit der Universität Wien und dem Schulpsychologischen Dienst (praktische Erprobung im Kindergarten 19., Osterleitengasse). 1980 wurde vorübergehend die Vollversorgung mit Kindergartenplätzen für alle drei- bis sechsjährigen Kinder erreicht. Im September 1993 besuchten in Wien 37.998 Kinder einen Kindergarten (davon 19.016 Kinder einen öffentlichen und 18.982 Kinder einen privaten Kindergarten); die flächendeckende Verlängerung der Öffnungszeiten auf die Nachmittagsstunden wird angestrebt (Stand 1994). Zu den aktuellen Trends gehört es, einzelnen Behinderungsformen Rechnung zu tragen, behinderte und ausländische Kinder zu integrieren und die Kinder sonderpädagogischen, psychologischen und ärztlichen sowie durch den Logopädischen Dienst der Stadt Wien zu betreuen.
Siehe auch
Videos
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Kindergärten
- Wienbibliothek Digital: Philipp Frankowski und Karl Gottlieb: Die Kindergärten der Gemeinde Wien. Wien: Thalia 1926
Literatur
- 70 Jahre Jugendamt der Stadt Wien. Wien 1987
- Bezirksheimatkunden
- Felix Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien 1919-1934. Hg. vom Amt für Kultur, Schulverwaltung der Stadt Wien. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1955-1981 (Wiener Schriften, 11), S. 171 ff. (weitere Literatur) und Register
- Christine Dobretsberger: Pädagogik in Kinderschuhen. Kinderbewahranstalten im 19. Jahrhundert (Wien Museum Magazin, 2023)
- Peter Feldbauer - Hannes Stekl, Wiens Armenwesen im Vormärz. In: R. Banik-Schweitzer u.a., Wien im Vormärz. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte Band 8, Wien-München: Jugend & Volk 1980, S. 175-201
- Jugendamt der Stadt Wien (Hg.): Die Kindergärten der Stadt Wien (ohne Jahr [1932])
- Ferdinand Lettmayer [Hg.]: Wien um die Mitte des XX. Jahrhunderts - ein Querschnitt durch Landschaft, Geschichte, soziale und technische Einrichtungen, wirtschaftliche und politische Stellung und durch das kulturelle Leben. Wien: 1958, S 495 f. (Sonderkindergärten: 496 ff.; Kindergartenpädagogik: S. 498)
- Christa Raffelsberger: Die Entwicklung der städtischen Kindertagesheime. In: Chronik der städtischen Kindertagesheime 1987, S. 9 ff.
- Elisabeth Wappelshammer: Geschichte des Kindergartens - die Anfänge der Institutionalisierung. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 1 (1994), S. 15 ff.
- Verwaltungsbericht der Stadt Wien 1923/1928 und 1929/1931, Inhaltsübersicht
- Von der Kinderbewahranstalt zu modernen Kindergärten. In: Blätter für Wohlfahrtswesen (1930), S. 188 f.
Referenzen
- ↑ Peter Feldbauer - Hannes Stekl, Wiens Armenwesen im Vormärz. In: R. Banik-Schweitzer u.a., Wien im Vormärz. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte Band 8, Wien-München: Jugend & Volk 1980, S. 191, 198 f.