Marchfeldkanal
48° 16' 47.67" N, 16° 22' 24.61" E zur Karte im Wien Kulturgut
Der Marchfeldkanal ist das in Fließrichtung erste Teilstück des Marchfeldkanalsystems, das aus Marchfeldkanal, Rußbach, Obersiebenbrunner Kanal und Stempfelbach besteht. Das Marchfeldkanalsystem wurde 1986 bis 2004 errichtet um die wasserwirtschaftliche und naturräumliche Situation im Marchfeld zu verbessern. Etwa 7,4 km des 19 km langen Marchfeldkanals liegen auf Wiener Gemeindegebiet im 21. Bezirk. Der Kanal und der ihn begleitende Grünzug stellen zudem eine bedeutende Freiraumschneise dar und sind in Wien als Erholungsgebiet gewidmet.
Projekt- und Baugeschichte
Im Jahr 1986, als die Bauarbeiten für die Neue Donau und die Donauinsel gerade ihrem Ende zu gingen, wurde mit dem Marchfeldkanalsystem ein Großprojekt in Angriff genommen, das ein ganz spezielles, hybrides Gewässersystem – halb Seitenarm der Donau, halb Zubringer – hervorbringen sollte. Erste Überlegungen für einen Bewässerungskanal im trockenen Marchfeld waren bereits 1824 von Hofbaurat Joseph Schemerl in Verbindung mit Schifffahrtskanälen von der Donau zur Elbe und zur Oder angestellt worden. Die erste Donau-Regulierungs-Kommission griff 1850 diese Idee auf und befürwortete den Bau eines Bewässerungskanals zwischen der Donau bei Langenzersdorf und dem Rußbach im Marchfeld, wie er im Wesentlichen 136 Jahre später umgesetzt werden sollte.
Die Donauregulierung zwischen Wien und der March ab 1870 verschärfte die Probleme der Marchfeldbevölkerung zusätzlich, da sich die Donau weiter eintiefte. Der Grundwasserspiegel im Marchfeld sank weiter ab und Gewässer fielen trocken. Übernutzung des Grundwasserkörpers und behördliche Einschränkungen der Wasserentnahmen wegen des zu hohen Nitratgehalts verschlimmerten im Laufe des 20. Jahrhunderts die Problemlage. Das Marchfeld wurde zur landwirtschaftlich am intensivsten genutzten Region Österreichs. Zwischen 1986 und 2004 wurde schließlich das insgesamt fast 100 km lange Marchfeldkanalsystem – bestehend aus künstlich angelegten Kanälen und adaptierten Bächen – errichtet, wobei das Hauptgerinne bereits 1992 geflutet wurde.
Der Kanal zweigt von der Donau flussauf des Einlaufbauwerks der Neuen Donau bei Langenzersdorf ab, passiert im Bereich der ehemaligen Schwarzen Lacke zwei Schönungsteiche, um die im Donauwasser vorhandenen Schwebstoffe („Letten“) abzulagern, und quert das Wiener Gemeindegebiet zwischen Großjedlersdorf und Stammersdorf. Im Mittel werden auf diese Weise 4 bis 6 m³ Wasser pro Sekunde dem Grundwasserkörper über drei Grundwasseranreicherungsanlagen im Marchfeld zugeführt. Anders als beim Bau der Donauinsel wurde das Kanalsystem von Anfang an als multifunktionales Projekt geplant, das neben wasserwirtschaftlichen auch landschafts- und gewässerökologischen Ansprüchen gerecht werden und zudem Naherholungsmöglichkeiten bieten sollte. In den neuen Lebensräumen konnten seither über 40 Fischarten, Biber, Ziesel, Hamster und andere seltene Tier-und Pflanzenarten beobachtet werden. Daneben war das Kanalsystem auch noch für einen Zweck gedacht, der bereits zwei Jahre nach Beginn der Bauarbeiten mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 obsolet war: Die Uferböschungen wurden bewusst so angelegt, dass von Norden und Osten angreifende Panzer im Bett des Kanals stecken bleiben sollten. Auch diese militärische Nebennutzung des Kanals war im Prinzip nicht neu, sondern wurde bereits nach der verheerenden Niederlage bei Königgrätz geboren, als die preußische Armee im Sommer 1866 auf Wien marschierte. Die damals eiligst errichteten transdanubischen Schanzanlagen zur Verteidigung Wiens bestehen teilweise noch heute.
Literatur
- Severin Hohensinner: Neue Rollen. Ausbau und Rückbau seit 1918. In: Wasser Stadt Wien. Eine Umweltgeschichte. Hg. vom Zentrum für Umweltgeschichte, Universität für Bodenkultur Wien. Wien: Holzhausen Druck 2019, S. 122-143, hier: S. 142f.
- Viktor Thiel: Geschichte der älteren Donauregulierungsarbeiten bei Wien. II. Vom Anfange des XV. bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts. III. Von der Mitte des XIX. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 4 (1905/06), S. 1-102, hier: 56f., 87f.