48° 12' 51.93" N, 16° 23' 5.41" E zur Karte im Wien Kulturgut
Das Nestroy Bio ((2., Praterstraße 34; später Nestroy Lichtspiele, Nestroykino) wurde 1905 im Parterre des Nestroyhofs gegründet und besaß damals einen schmalen, schlauchförmigen Saal (circa 26 mal 5,5 Meter). 1909 lag der Fassungsraum bei 220 Personen.
Erste Jahre
Lizenz
Von 1908 bis 1916 hatten die Lizenz der 1878 in Krems geborene Gustav Karpfen und Antoinetta Drucker inne. 1917 wurde die Lizenz von Antoinetta Drucker und Betti Mayerhofer auf die 1883 im polnischen Skala geborene Eleonore Dukler übertragen. Das Kino fasste zu diesem Zeitpunkt 274 Sitzplätze. Die Lizenz wurde in den Folgejahren nach der Bearbeitung feuerpolizeilicher Mängel des kleinen Betriebs, die bei den jährlichen Revisionen laufend festgestellt wurden, verlängert.
Im Mai 1924 musste Eleonore Berger (vormals Dukler) wahrscheinlich unwissentlich um ihre Konzession bangen: Zeitgleich mit ihrem Ansuchen um Verlängerung suchte auch die "Kriegerswitwe" Michaela Felix um die Verleihung der Lizenz zur Betreibung des Nestroy Bios bei der Magistratsabteilung 52 an. Aus einem Schreiben des damaligen Bezirksvorstehers des 2. Bezirks an die Magistratsabteilung geht hervor, dass Felix’ Chancen auf die Lizenz nicht schlecht standen. So heißt es dort: "Auf Grund der gepflogenen Erhebungen wäre es kein Unrecht, wenn statt an Eleonore Berger, die verheiratet ist und deren Existenz nicht gefährdet erscheint, die Konzession [!], wenn die Lokalfrage und die Ablöse geordnet wird, auf die Kriegerswitwe Michaela Felix, die für 4 Kinder zu sorgen hat, übertragen wird." Die Magistratsabteilung entschied dennoch zugunsten Bergers, deren "Kinematographenlizenz" für das Nestroy Bio in der Praterstraße 34 auch in diesem Jahr verlängert wurde.
1927 wurden hier unter anderen die Filme "Der kleine Lord", "Landpomeranze" und "Kein Papier, kein Stroh" zur Aufführung gebracht.
Pläne zur Verlegung
1928 suchte Berger erstmals um Verlegung des Kinos in die schräg gegenüberliegende Praterstraße 25 an und legte ihrem Antrag mehrere Baupläne bei. Der Betreiber des dort zu diesem Zeitpunkt ansässigen Theaters Rolandbühne, Emil Richter-Roland, war aufgrund der "niedergehenden Theaterkonjunktur" in Zahlungsschwierigkeiten gegenüber der Magistratsabteilung 5 (Lustbarkeitsabgabe) geraten und setzte sich in einem persönlichen Schreiben an die Behörde für die Übernahme der Räumlichkeiten durch die Kinobetreiberin ein.
In einem mehrseitigen Brief an die Wiener Magistratsabteilung 52 argumentierte Eleonore Berger im Sinne ihres Vorhabens: So wäre das neue Kino mit einem geplanten Fassungsvermögen von 676 Sitzplätzen nur geringfügig größer als die beiden bis zum Jahr 1926 in der Praterstraße befindlichen Kinos Maxim Bio (Praterstraße 66, 260 Sitzplätze) sowie das von Berger betriebene Nestroy Bio (nun: 276 Sitzplätze) zusammen (536 Sitzplätze). Eine Vergrößerung des Nestroy Bios stelle, nachdem es bereits 1926 zur Schließung des Maxim Bios gekommen wäre, für die umliegenden Kinos in Bezug auf die Auslastung demnach keine Gefahr dar und käme, im Gegenteil, dem Bedarf an Sitzplätzen im Bezirk sogar entgegen. Die Ausweitung des Fassungsvermögens sei zudem notwendig, um den Erwartungen des gegenwärtigen Publikums gerecht zu werden. Nur durch den finanziellen Zugewinn als Folge des aufgestockten Kartenverkaufs sei es möglich, so Berger, erstklassige und dementsprechend teure Filme für die Darbietung mieten zu können sowie eine technische Ausgestaltung des Kinos zu garantieren, "die den modernsten Anforderungen und dem schon verwöhnten Geschmack des Publikums genügt". Das Nestroy Bio wirke als einziges Kino in einer der schönsten Hauptstraßen Wiens mit seinem unzulänglichen Fassungsraum "fast grotesk", eine Vergrößerung des aktuellen Standorts wäre aus technischen Gründen aber leider nicht möglich. Schließlich führte Berger noch die Vorteile der Übernahme für den unverschuldet in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Richter-Roland an und bat die Behörden, diese möge ihr Ansuchen aus rein menschlichen Gründen befürworten – um den Niedergang des Nestroy Bios als Konsequenz des steigenden Konkurrenzdrucks durch die Großkinos abzuwenden.
Das Ansuchen Bergers wurde den relevanten Stellen zur Beurteilung vorgelegt. Die Magistratsabteilung 5 hatte der Verlegung in ihrer Rückmeldung an die Magistratsabteilung 52 nichts einzuwenden und befürwortete den Umstand, dass es Emil Richter-Roland in diesem Fall durch den Verkauf des Inventars möglich wäre, die offenen Rechnungen zu begleichen. Sie fügte ihrem Schreiben jedoch ergänzend bei, dass bei der Schaffung eines neuen Großkinos auf der Praterstraße wohl mit Widerstand der umliegenden Kinos (Zentralkino, Schweden Kino, Busch Kino und Kino Lustspieltheater) zu rechnen sei. Der Verband der Klein- und Mittelkinos, der ebenfalls um eine Stellungnahme zum Ansuchen gebeten wurde, hieß das Vorhaben sogar ohne Einschränkung gut. Und auch die Union der Bühnen- und Kino-Personale bewertete die geplante Verlegung des Kinos als positiv. Der Bund der Wiener Lichtspieltheater sprach sich jedoch gegen den Umzug aus. Als Grund führten die Verantwortlichen die daraus folgende "bedeutende Vermehrung der Sitzplatzanzahl" an.
Nach Sondierung der einzelnen Stellungnahmen entschied die Magistratsabteilung 52 schließlich gegen die Genehmigung des Ansuchens Eleonore Bergers mit der Begründung, dass das Bedürfnis nach Schaffung eines weiteren Großkinos im 2. Bezirk derzeit nicht gegeben sei. Zwar legte Berger Berufung ein, zog diese aber in weiterer Folge wieder zurück.
Auch in den Jahren 1929 und 1930 versuchte Berger ihr Glück mit weiteren Ansuchen um Verlegung, jedoch erfolglos.
Tonkino
Trotz der behördlichen Rückschläge und einer temporären Schließung aufgrund "schlechten Geschäftsganges" baute Eleonore Berger das Nestroy Bio 1930 zum Tonkino aus. Um den Lautsprecher installieren zu können, wurde die Leinwand um einen Meter nach vorne gerückt, was die Auflassung der ersten Sitzreihe zur Folge hatte. Aufgrund der Verlegung einer zweiflügeligen Türe im selben Jahr sowie der Schließung von drei einflügeligen Ausgangstüren kam es ebenfalls zu einer Änderung der Sitzreihen. Schließlich verfügte das neue "Nestroy Ton-Kino" über 277 Sitze.
NS-Zeit und Nachkriegszeit
"Arisierung"
1938 wurden Eleonore Breitner-Berger und ihre Tochter Greta Konrad (geborene Dukler), die sich die Konzession zu diesem Zeitpunkt zu jeweils 50 Prozent teilten, aufgrund ihrer jüdischen Abstammung von der NSDAP enteignet und die Lizenz für das Nestroy Bio zu gleichen Teilen auf die „Arisierer“ Rudolf Strasser und Fritz Winter überschrieben. Winter übertrug seine Pachtrechte auf Emmerich Kern, den Inhaber des Kinos Kern im Prater, der das Unternehmen führte, bis er 1942 in die Wehrmacht eintrat und die Rechte vorsorglich an seine Ehefrau, Stefanie Kern, abtrat.
Rückstellung
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Kino beschlagnahmt und unter russische Kommandantur gestellt. Zum provisorischen Leiter und Verwalter des Kinos wurde bis auf weiteres Fritz Holzdorfer bestellt.
Ab 1947 erhielt die wiedererrichtete Kinobetriebs-, Filmverleih und Filmproduktionsgesellschaft mbH (KIBA) die treuhändige Betriebsführung in Form der Konzession überschrieben. Mit der Begründung, sie und ihr Mann hätten seit 1938 etliche Investitionen zur Aufwertung des herabgewirtschafteten Betriebes getätigt und sie selbst stehe nach dem Krieg nun vor dem Nichts, suchte die vormalige Konzessionspächterin Stefanie Kern um den Rückerhalt des Kinos an. Doch auch Greta Konrad, die sich vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime nach New York retten hatte können, stellte von dort aus einen Rückstellungsantrag. Ihre Mutter, Eleonore Breitner-Berger, bis zur Enteignung langjährige Betreiberin des Nestroy-Kinos, war während des Krieges nach Polen deportiert worden. Am 8. Mai 1945 wurde sie für tot erklärt.
Dem Erbrecht entsprechend, wurde das Kino zu gleichen Teilen an ihre Kinder weitergegeben – Greta Konrad hielt folglich drei Viertel der Inhaberschaft, ihrem ebenfalls nach New York geflüchteten Bruder Alfred Dukler wurde das restliche Viertel überschrieben. Vorläufige Konzessionärin blieb allerdings die KIBA, die die Konzession wiederum an Greta Konrad und Alfred Dukler beziehungsweise an ihren gesetzlichen Vertreter, Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Heublum, verpachtete. Die Belegschaft wurde vollständig übernommen und Fritz Holzdorfer zum Geschäftsführer ernannt.
1951 ging die Konzession im Zuge des Rückstellungsverfahrens endgültig an Greta Konrad zurück, die Behörden merkten jedoch an, dass eine neuerliche Ausstellung nur in Aussicht gestellt werden könne, wenn Konrad ihren Wohnsitz nach Österreich verlege. Sie versicherte zwar, dass sie nach Wien zurückkehren wolle, letztendlich blieb sie jedoch in New York. Ihre Konzession wurde in den Folgejahren dennoch weiter verlängert – geknüpft an die Bedingung, dass vierteljährlich ein Lebensnachweis der Konzessionärin erbracht würde.
Letzte Jahre
Überschreibung der Konzession
Greta Konrad verpachtete die Konzession 1954 offiziell an die Offene Handelsgesellschaft Konrad, Mallek und Co., der sie – neben ihrem Bruder Alfred Dukler und den beiden in Wien ansässigen Geschäftspartnern Rudolf und Suse Mallek – als Gesellschafterin vorstand. Wenige Monate später wurde die Konzession ganz auf die OHG überschrieben, und Suse Mallek wurde zur Geschäftsführerin bestellt.
Renovierung durch Robert Kotas
Im selben Jahr fanden einige Renovierungsarbeiten nach Plänen von Robert Kotas im Nestroy Kino statt: Der Warteraum wurde leicht vergrößert und eine größere Kassa mit Glaswand eingebaut. Die Ausgangstüren im Zuschauerraum wurden verbreitert, die rückwärtige Tür sowie die Tür zum Hausflur wurden zugemauert. Die Klappsitze wurden erneuert und zwei weitere Sitze hinzugefügt. Für die WC-Anlagen wurde ein gemeinsamer Vorraum geschaffen, wodurch einer der beiden Zugänge aus dem Zuschauerraum überflüssig und infolgedessen zugemauert wurde. Der Fassungsraum betrug nun 279 Sitze (33 Reihen plus 13 seitliche Einzelsitze).
Auch die Fassade des Kinos im Bereich Praterstraße und Tempelgasse wurde neu gestaltet. Eine Ankündigungstafel, Schaukästen und ein frontseitiger Neonschriftzug prägten das Erscheinungsbild von nun an. Zudem bekam der Kinoeingang ein Wetterdach.
Im Folgejahr wurde im Warteraum neben der Kassa ein Buffet eröffnet. 1958 wurde das Kino durch die Installation einer Cinemascope-Leinwand für Breitbildformatvorführungen technisch aufgerüstet.
Ansuchen um ein "Tageskino"
1959 suchte Geschäftsführerin Suse Mallek um eine „in zeitlicher Hinsicht unbeschränkte Bewilligung für die Aufführung von Filmen und Stehbildern“ für das Nestroy Kino an. Die Umwandlung in ein sogenanntes "Tageskino", das schon ab 9 Uhr Früh Filme zeigen durfte, lehnten die Behörden allerdings ab. Die Fachgruppe der Lichtspieltheater begründete ihre Einschätzung damit, dass die Wiener Kinolandschaft bereits übersättigt sei und der zeitlich uneingeschränkte Betrieb des Standorts an einer Hauptverkehrsader, jedoch abseits von Knotenpunkten, möglicherweise eine negative Entwicklung des Publikums mit sich ziehen würde: "Bei der örtlichen Lage des antragstellenden Betriebes wäre noch in Erwägung zu ziehen, ob nicht große Gefahr bestünde, daß zweifelhafte Personen während der sonst üblichen Arbeits- und Dienstzeiten den gegenständlichen Betrieb zu einem Zentrum dunkler Ereignisse werden lassen könnten."
Vorübergehende Stilllegung und Schließung
Am 31. Oktober 1975 wurde das Kino vorerst nur "vorübergehend stillgelegt", der Betrieb wurde jedoch nie wieder aufgenommen. Am 10. März 1976 legte die OHG Konrad, Mallek & Co. die unbefristete Konzession endgültig zurück.
Nachnutzung
Heute befindet sich in den Räumlichkeiten des ehemaligen Kinos der Kunstraum Nestroyhof.
Fassungsraum
Siehe auch: Kino
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A11: 2. Nestroy-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A27 - ÖV Kino: K64 Nestroy-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 471, A3/1: 2. Praterstraße 34 Nestroy-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fachverband der Lichtspieltheater, A1: 151 - Nestroy-Kino
- NÖLA, XIV 199a, Nr. 1890
Literatur
- Werner Michael Schwarz: Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934. Wien: Turia & Kant 1992, S. 188