Sammellager Kleine Sperlgasse 2a
48° 12' 55.94" N, 16° 22' 38.57" E zur Karte im Wien Kulturgut
Von Februar bis März 1941 und von Oktober 1941 bis Ende Oktober 1942 fungierte das Haus als Sammellager der für die Deportationen zuständigen "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" im Rothschildpalais (4., Prinz-Eugen-Straße 20-22).
Vorgeschichte
Das Gebäude wurde 1875 als Schulgebäude der Stadt Wien erbaut. Es war Teil eines größeren Gebäudekomplexes mit mehreren Schulen. Die Adresse 2A diente zunächst als Volksschule und im Weiteren auch als Mädchenhauptschule. Nach dem "Anschluss" wurde die Kleine Sperlgasse 2A vom Stadtschulrat zu einer der sogenannten Judenschulen bestimmt. Die Auflösung und Zusammenlegung verschiedener "Judenschulen" führte dazu, dass ab November 1940 auch eine Knabenhauptschule im Gebäude bestand. Ab Dezember 1940 musste die Israelitische Kultusgemeinde Wien die Schule von der Stadt Wien mieten und führen. Nach nur zwei Monaten wurde die Schule geschlossen. Im Februar 1941 mussten die jüdischen Schülerinnen und Schüler in die Schule in der Castellezgasse 35 übersiedeln.
Das Sammellager Kleine Sperlgasse ("Sperlschule")
Im Februar 1941 errichtete die "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" im Schulgebäude in der Kleinen Sperlgasse ein Sammellager, wo Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation interniert wurden. Das Sammellager in der Kleinen Sperlgasse 2A war das größte und am längsten bestehende Sammellager. Die Mehrheit der 45.451 Deportierten aus den Jahren 1941-1942 wurde von der Sperlgasse aus deportiert. Mehrere Quellen dokumentieren die schlechten Bedingungen im Sammellager und auch die Verzweiflung der Internierten, von denen einige im Lager Selbstmord begingen. Eine der eindrücklichsten Quellen dazu ist das Gedicht des Holocaust-Überlebenden Otto Kalwo (1918-2008), der für kurze Zeit auch als jüdischer "Ordner" im Lager gearbeitet hat.
"Die Sperlschule summt" (Gedicht von Otto Kalwo)
"Tausende Juden sind für einen Ostentransport bereitgestellt worden. Bewegung erfüllt das Haus. Treppauf, treppab, so wandern die Unruhigen. Alte Kranke werden in die Zimmer geschleppt und auf verwanzte, ausgenommene Matratzen fallen gelassen. Da liegen sie, hilflos, die matten Augen in eine Welt gerichtet, die sie nicht mehr verstehen. Sie wollen noch zu ihren Kindern ins Ausland kommen, sie sehen und küssen und vor Wiedersehensfreude lächeln... Es ist nichts daraus geworden. Sie werden nach Osten fahren. In ein Getto. So spinnen sie ihre Gedanken fort. Ausland, Kinder, Osten... [...] Die Sperlschule summt. Ein Geflüster geht durch die Eingeweihten, leitenden Juden: 'Brunner kommt!' Der Namen des gefürchteten [sic] legt sich wie ein Alpdruck a[u]f die Juden. Der Todesengel kommt! Er bestimmt, ob du oder du morgen ins Elend fährst. Kommission ist angesagt. Die Gänge werden gewaschen, das Kommissionszimmer aufgeräumt – Betreten blickt man sich an. Das letzte Stadium rückt heran. Die Entscheidung. Das Summen und Raunen in den Zimmern wird stärker, Nervosität macht die Insassen einander unleidlich. [...] 'Gibt es eine Zurückstellung?' Das ist die Fragen, die sie beherrscht. [...]."[1]
Das Sammellager wurde mit dem Ende der großen Deportationen Ende Oktober 1942 aufgelöst.
Nachnutzung
Nach Schließung des Sammellagers erhielten die Mädchenvolkschule Kleine Pfarrgasse 33 und die Jungenvolkschule Leopoldsgasse 3 das Gebäude zugesprochen. Anfang 1943 begannen die Renovierungsarbeiten. Am 28. August 1943 wurde der Unterricht in der Kleinen Sperlgasse 2A als öffentliche Schule der Stadt Wien wieder aufgenommen. Das Gebäude ist heute eine öffentliche Volksschule.
Literatur
- Markus Brosch: Jüdische Kinder und LehrerInnen zwischen Hoffnung, Ausgrenzung und Deportation. VS/HS Kleine Sperlgasse 2a, 1938-1941. Diplomarbeit Univ. Wien. Wien 2012
- Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes [Hg.]: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. Erzählte Geschichte. Band 3. Wien: Österreichischer Bundesverlag ²1993
- Shoshana Duizend-Jensen: Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. "Arisierung" und Restitution. Wien / München: Böhlau 2004 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, 21/2)
- Dieter J. Hecht / Eleonore Lappin-Eppel / Michaela Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Wien: Mandelbaum 2015
- Otto Kalwo: Evakuiert, Deggendorf 1945. Yad Vashem Archives (YVA) O.33/1408
- Eleonore Lappin-Eppel / Katharina Soukup / Johann Soukup [Hg.]: Rita Maria Rockenbauer. "Zu lesen wenn alles vorüber ist". Briefe 1938-1942. Wien: new academic press 2014 (VWI Studienreihe , 1)
- Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 2000
- Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945. Wien: Herold 1978
Einzelnachweise
- ↑ Dieses Gedicht verfasste Otto Kalwo wenige Monate nach seiner Befreiung im DP-Lager Deggendorf. Otto Kalwo, Evakuiert, Deggendorf 1945, Yad Vashem Archives (YVA) O.33/1408.