Heimito Doderer (Pseudonym Heimito von Doderer), * 5. September 1896 Hadersdorf (Doderer-Gedenkstein), † 23. Dezember 1966, Schriftsteller
Biografie
Franz Carl Heimito von Doderer wurde als sechstes und jüngstes Kind im einsam gelegenen Laudon'schen Forsthaus in Hadersdorf (Ortsgemeinde Hadersdorf-Weidlingau) geboren. Sein Vater Wilhelm von Doderer (1854-1932) hatte das Haus wegen der Nähe zu einer seiner Großbaustellen, dem Staubecken des Wienflusses, angemietet. Nur wenige Tage nach der Geburt zog die Familie wieder in das großbürgerliche Stadthaus in der Stammgasse 12 (3. Bezirk) zurück, wo Heimito von Doderer seine Kindheit und Jugend im Schatten seines übermächtigen und erfolgreichen Vaters in Wien verbrachte. Die Familie war väterlicherseits mit dem Dichter Nikolaus Lenau verwandt: Heimitos Urgroßmuter war eine Cousine des Schriftstellers. Die Sommerferien verbrachte die Familie in Prein an der Rax, wo sie zuerst eine Villa anmietete, später ein eigenes Haus, den "Riegelhof", erbauen ließ. Heimito besuchte die Volksschule und das Gymnasium in der Kundmanngasse, wo er am 4. Juli 1914, eine Woche nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, die Matura ablegte.
Im Herbst 1914 immatrikulierte er an der juridischen Fakultät, Mitte 1915 rückte er als "Einjährig-Freiwilliger" in die Breitenseer Kaserne mit eigenem Pferd und schmucker Uniform zur Dragonerausbildung ein. Mitte Januar 1916 wurde er an die galizische Front geschickt, allerdings ohne Pferd, weil der Generalstab bereits gelernt hatte, dass Kavallerieoffensiven im Maschinenkrieg selbstmörderisch endeten. Im Verlauf der Brussilow-Offensive geriet er am 12. Juli 1916 in russische Kriegsgefangenschaft. Die ersten beiden Jahre verbrachte er in Lagern im Fernen Osten in Pazifiknähe. Im Frühjahr 1918, nach dem Frieden von Brest-Litwosk, schien die Rückkehr in die Heimat gewiss, doch der wochenlange Eisenbahntransport geriet in die Revolutionswirren und Kämpfe zwischen Roten und Weißen Garden. Weitere zwei Jahre in sibirischer Kriegsgefangenenschaft in Krasnojardsk waren die Folge. Im Frühjahr 1920 flüchtete er in einer kleinen Gruppe zuerst auf langen Fußmärschen, dann ab dem Ural per Eisenbahn in Richtung Heimat. Am 14. August 1920 erreichte er Wien.
Im Herbstsemester schrieb sich Doderer an der Philosophische Fakultät ein, verschrieb sich ab 1921 intensiv dem Studium der Geschichtswissenschaft (Oswald Redlich und Heinrich von Srbik waren seine wichtigsten Mentoren), das er 1925 mit einer Doktorarbeit über "Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung in Wien während des 15. Jahrhunderts" abschloss. Bereits während des Studiums 1923 wandte er sich der schriftstellerischen Arbeit zu, veröffentlichte erste Bücher (1923 den Gedichtband "Gassen und Landschaft" und 1924 die Erzählung "Die Bresche"), schrieb aus Erwerbsgründen regelmäßig journalistische Arbeiten, die in der Mehrheit in der Tageszeitung "Der Tag" (ab 1930 "Der Wiener Tag") erschienen. 1930 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Das Geheimnis des Reiches", der allerdings keinen Erfolg brachte. Am 28. Mai 1930 heiratete er seine langjährige Partnerin, die katholisch getaufte, aus jüdischer Familie stammende Zahnarzttochter Gusti Hasterlik; wenige Monate später zerbrach allerdings die vielfach turbulente, an Intensität nicht mangelnde Beziehung.
Offensichtlich beeindruckt vom politischen Erfolg der Nationalsozialisten im Deutschen Reich, trat Doderer am 1. April 1933 der NSDAP bei; dem Parteieintritt vorausgegangen war die Bekanntschaft mit dem Schriftleiter der "Deutsch-Österreichischen Tageszeitung" (DÖTZ) Gerhard Aichinger. Doderer publizierte keine politischen Artikel im Sinne des Nationalsozialismus, nutzte aber die "DÖTZ" als Plattform für den Abdruck seiner literarischen Arbeiten. 1936 beantragte er seine Aufnahme in die Reichsschriftumskammer. Im Aufnahmegesuch stellte er seinen großen Roman, zuerst unter dem Titel "Dicke Damen" geplant, in der späteren Fassung von 1956 als "Die Dämonen" publiziert, als antisemitisches "Theatrum iudaicum" unter dem Titel "Die Dämonen der Ostmark" vor. In der Erwartung eines größeren Erfolgs im Deutschen Reich übersiedelte er im August 1936 nach Dachau, fühlte sich aber schnell unverstanden, isoliert und als Österreicher wenig geachtet. Sein Kriminalroman "Der Mord den jeder begeht“ kam 1938 bei Beck heraus, 1940 sein Roman "Der Umweg“ im gleichen Verlag. Sein Respekt vor dem NS-Staat blieb allerdings trotz nationalsozialistischer Vernichtungspolitik gegenüber den Juden. Gusti Hasterlik gelang die Flucht ins New Yorker Exil. 1939 ging er zurück nach Wien, lebte gemeinsam mit Albert Paris Gütersloh in einer Wohnung in der Buchfeldgasse. Protestantisch getauft, erfolgte 1940 seine Konversion zum Katholizismus. Setzte schon ab 1936 eine gewisse Desillusionierung vom Nationalsozialismus ein, flüchtete er ab 1940 in eine gewisse innere Emigration (die Wahrheit der Kunst versus die falsche Welt der Politik).
Am 30. August 1940 rückte Leutnant von Doderer ein und kam ins besetzte Frankreich; am 17. April 1942 wurde er als Hauptmann, der eine eigene Kompanie zu übernehmen hatte, an die russische Front nach Kursk verlegt. Wegen neuralgischer Leiden, vielleicht auch wegen seines "Tachinierens im Verband" wurde Doderer als "garnisonsdienstverwendungsfähig“ in die Heimat zurück geschickt, diente als Luftwaffenoffizier auch in Wiener Neustadt und schließlich in Wien, um hier die Städte gegen den Luftkrieg zu sichern (erste schwere Bombardements auf Wiener Neustadt am 13. August 1943). Doderer wurde in der Endphase des Krieges neuerlich versetzt, kam schließlich nach Norwegen, wo er in die britische Kriegsgefangenschaft geriet. Im November 1945 wurde er freigelassen, aus Angst vor der russischen Besatzung kam Wien zur Rückkehr nicht in Frage, so mietete er sich zunächst bei Onkel Richard am Attersee ein, wo er seine Arbeit an der "Strudlhofstiege" aufnahm. Albert Paris Gütersloh und Edwin Rollett, später auch Otto Mauer engagierten sich dafür, dass er als belastetes NSDAP-Mitglied vom Arbeitsdienst freigestellt wurde und mit einem Sühnegeld relativ milde davonkam. Ein Vertrag mit der Verlegerin Ilse Luckmann befreite ihn von den unmittelbaren Existenzängsten.
1947 bis 1950 absolvierte er das Institut für österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. Das Erscheinen des Romans "Die Strudlhofstiege oder Melzer und Die Tiefe der Jahre" (1951) wurde für Doderer zum Triumph; er wurde in allen Medien als der gewichtigste deutsche Nachkriegsschriftsteller gefeiert. Doderer war für den Nobelpreis im Gespräch. Er schilderte in seinen breit angelegten Roman in kunstvoller, mit Austriazismen angereicherter Sprache und mit überragender Erzähltechnik das Wien und seine Gesellschaft vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Ihm schloss sich der thematisch verwandte, noch umfangreichere Roman "Die Dämonen" (1956) an, der viele Textbausteine aus seinen Vorstudien enthielt. Der auf drei Teile konzipierte "Roman No. 7", der an die beiden großen Wiener Romane anknüpfen sollte, blieb unvollendet; nur der erste Teil der Trilogie wurde publiziert: "Die Wasserfalle von Slunj“ (1963). Der Roman "Die Merowinger oder Die totale Familie" (1962) verstörte einen Teil des Publikums und der Kritik, weil diese nicht mit der Tendenz zur Absurdität und zur grotesken Überzeichnung zurecht kamen. Für das philosophische Verständnis seiner Werke waren die publizierten Tagebücher („Tangenten", 1964) von großem Wert. Doderers Erzählungen ("Die Peinigung der Lederbeutelchen“, 1959) waren durch satirisch-ironische Fabulierkunst, makabren Humor und die Neigung zur Groteske gekennzeichnet.
Ein erheblicher Teil seines Werkes wurde erst nach seinem Tod am 23. Dezember 1966 publiziert. 1967 kam der zweite Teil des "Romans No. 7“, "Der Grenzwald“ heraus. Wendelin Schmidt-Dengler gab die Erzählungen, die umfangreichen "Commentarii“ (1976, 1986) oder Texte aus der sibirischen Gefangenschaft ("Die sibirische Klarheit“, 1991) heraus. Zum hundertsten Geburtstag erschienen eine neunbändige Ausgabe "Das erzählerische Werk“ sowie die unbearbeiteten "Tagebücher 1920-1939“) des Autors, die seine erotischen Exzesse, sein antisemitisches Denken, aber auch seine verbissene und quälende Selbstkritik offenbarte. Eine umfangreiche kritische Biographie von Wolfgang Fleischer komplettierte das neue Doderer-Bild und inspirierte eine neue Doderer-Forschung, die sowohl sein Genie als auch seine ideologischen Abgründe analysieren und würdigen konnte.
Im Auftrag der Stadt Wien hat eine HistorikerInnen-Kommission die historische Bedeutung jener Persönlichkeiten, nach denen Wiener Straßen benannt sind, von 2011 bis 2013 untersucht sowie eine zeithistorische Kontextualisierung vorgenommen. Aufgrund der daraus gewonnenen Erkenntnisse zur historischen Einordnung von Heimito von Doderer wurde der Straßenname als Fall mit demokratiepolitisch relevanten biographischen Lücken eingeordnet.
Doderergasse; Heimito-von-Doderer-Hof
Quellen
- WStLA, Historische Meldeunterlagen, K11: Meldezettel von Heimito von Doderer
- WStLA, Gauakten, A1: Heimito von Doderer, Zahl 61.843
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Heimito von Doderer
- Wienbibliothek Digital: Heimito von Doderer
Literatur
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- Gerhard Renner: Die Nachlässe in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Ein Verzeichnis. Wien: Stadt Wien, Magistratsabt. 9, Wiener Stadt- und Landesbibliothek 1993
- Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher. Band 18. Wien [u.a.]: Amalthea-Verlag 1972
- Isabella Ackerl / Friedrich Weissensteiner: Österreichisches Personenlexikon der Ersten und Zweiten Republik, Wien: Ueberreuter 1992
- Walter Pollak [Hg.]: Tausend Jahre Österreich. Eine biographische Chronik. Band 3. Wien / München: Jugend & Volk 1995, S. 466 ff.
- Karl Wache: Dichterbildnisse aus Alt- und Neu-Wien. Wien: Bergland-Verlag 1969 (Österreich-Reihe, 363/364), S. 103 ff.
- Hannes Rieser: Doderer und Gütersloh. Metaphorik und "totaler" Roman. Diss. Univ. Salzburg. Salzburg 1968
- Lutz-Werner Wolff: Wiedereroberte Außenwelt. Studien zur Erzählweise Heimito von Doderers am Beispiel des Romanes No. 7. Göppingen: Kümmerle 1969 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 13)
- Dietrich Weber: Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk. München: Beck 1963
- Dietrich Weber: Heimito von Doderer. München [u.a.]: Beck 1987, S. 129 ff.)
- Alexander Novotny: Persönliches über Heimito von Dodererin. In: Alois Eder [Hg.]: Marginalien zur poetischen Welt. Festschrift für Robert Mühlher zum 60. Geburtstag. Berlin: Duncker & Humblot 1971, S. 481 ff.
- Heimito von Doderer / Albert Paris Gütersloh: Briefwechsel 1928-1962. Hg. von Reinhold Treml. München: Biederstein 1986
- Jose Antonio Palma-Caetano: Humor und Groteske im Werk Heimito von Doderers. Diss. Univ. Wien. Wien 1980
- Adalbert Schmidt: Dichtung und Dichter Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1. Salzburg: Bergland-Buch 1964, S. 394 ff.
- Milan Dubrovic: Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés. Wien [u.a.]: Zsolnay 1985, Register
- Literatur und Kritik 8 (1973), S. 615 ff.
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- Helmut Kretscher: Landstraße. Geschichte des 3. Wiener Gemeindebezirks und seiner alten Orte. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1982 (Wiener Heimatkunde, 3), S. 171
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- Felix Czeike: IX. Alsergrund. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1979 (Wiener Bezirkskulturführer, 9), S. 46, 56, 58
- Felix Czeike: XIV. Penzing. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1980 (Wiener Bezirkskulturführer, 14), S. 6, 50
- Karl Hopf: Heimito von Doderers Beziehungen zu Hadersdorf-Weidlingau und Hütteldorf. In: Penzinger Museumsblätter 39 (1975), S. 281 ff.
- Engelbert Pfeiffer: Heimito von Doderers Jahre in Döbling. In: Döblinger Museumsblätter 84/85 (1986), S. 1 ff.
- Engelbert Pfeiffer: Heimito von Doderer-Gedenkstätte im Bezirksmuseum Alsergrund. In: Das Heimatmuseum Alsergrund. Mitteilungsblatt des Museumsvereines Alsergrund 114 (1988)
- Das Heimatmuseum Alsergrund. Mitteilungsblatt des Museumsvereines Alsergrund 98 (1984)
- Hans Pemmer / Ninni Lackner: Die Währinger Straße. Ein Spaziergang von der Votivkirche zur Volksoper. Wien: Verein zur Erhaltung und Förderung des Heimatmuseums Alsergrund 1968 (Beiträge zur Heimatkunde des IX. Wiener Gemeindebezirks, 3), S. 39
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- Laurenz Strebl: Der Doderer-Nachlaß in der Österreichischen Nationalbibliothek. In: Biblos 21 (1972), S. 17 f.
- Heimito von Doderer. 1896-1966. Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek, 3. November bis 17. Dezember 1976. Veranst. vom Heimito von Doderer-Institut Wien. Wien: Heimito-von-Doderer-Inst. 1976
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.1986, L 4 (Tagebücher)
- Rathaus-Korrespondenz. Wien: Presse- und Informationsdienst, 03.09.1971
- Karl F. Stock / Rudolf Heilinger / Marylène Stock: Personalbibliographien österreichischer Dichter und Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. Pullach bei München: Verlag Dokumentation 1972
- Franz Hubmann: Auf den Spuren von Heimito von Doderer. Eine photographisch-literarische Reise rund um die "Strudlhofstiege" in Wien. Wien: Brandstätter 1996
- Engelbert Pfeiffer: Bogenschütze Heimito von Doderer. Der Romancier - ein Tao-Schüler. In: Parnass 5 (1985), S. 72-76
- Wolfgang Fleischer: das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer. Wien: Kremayr & Scheriau 1996.
- Peter Autengruber: Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung, Herkunft, frühere Bezeichnungen. 9. Auflage. Wien: Pichler Verlag 2014, S. 69
- Peter Autengruber / Birgit Nemec / Oliver Rathkolb / Florian Wenninger: Umstrittene Wiener Straßennamen. Ein kritisches Lesebuch. Wien: Pichler Verlag 2014, S. 176–179
- Peter Autengruber / Birgit Nemec / Oliver Rathkolb / Florian Wenninger: Forschungsprojektendbericht "Straßennamen Wiens seit 1860 als 'Politische Erinnerungsorte'". Wien 2013
Heimito von Doderer im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.