Eheschließungen
Zivilehe
Neben der beim Konzil von Trient festgelegten Form der kirchlichen Eheschließung (11. November 1563) lag mit dem Ehepatent Josephs II. vom 16. Jänner 1783 erstmalig ein System staatlichen Eherechts vor. Die Bestimmungen des Patents wurden – samt im Laufe der Zeit vorgenommenen Änderungen – in das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch von 1811 übernommen. Mit dem Konkordat von 1855 wurden die Eheangelegenheiten jedoch neuerlich an die katholische Kirche übertragen, wodurch wiederum die Kirchengesetze, namentlich die Verordnungen des Konzils von Trient, zur Anwendung kamen.
Militärische und politische Niederlagen zwangen Kaiser Franz Joseph I. ab den 1860er Jahren zu einem Abrücken von seiner neoabsolutistischen Linie. Im Mai 1868 verabschiedete er zwei Gesetze, die – im Widerspruch zum Konkordat – die Ehesachen nach den Vorgaben des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wieder den weltlichen Gerichten unterstellten. Das Konkordat wurde 1874 formell gekündigt.
"Notzivilehe"
Zu den Bestimmungen im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch trat im Gesetz vom 25. Mai 1868 eine wesentliche Neuerung hinzu: Brautleute, denen die Stellung des Aufgebots oder die Eheschließung aufgrund eines kirchlichen Ehehindernisses, welches allerdings kein staatliches Ehehindernis darstellte, vom zuständigen Seelsorger versagt wurde, konnten das Aufgebot bei einer weltlichen Behörde veranlassen und vor dieser auch die Ehe schließen. Katholische Brautleute durften eine sogenannte "Notzivilehe" nur dann eingehen, wenn ihnen der zuständige Seelsorger das Aufgebot und die Eheschließung aufgrund eines kirchlichen Ehehindernisses explizit verweigerte oder wenn beide Brautleute ausdrücklich erklärten, nicht kirchlich heiraten zu wollen. Vor den weltlichen Behörden hatte auch all jene die Ehe zu schließen, die keiner gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft angehörten oder konfessionslos waren. Der umgangssprachliche Ausdruck "Notzivilehe" verweist darauf, dass auch weiterhin die vor dem zuständigen Seelsorger geschlossene Ehe als Norm galt.
Die erste Ziviltrauung in Wien fand 1870 unter Bürgermeister Cajetan Felder in der (altkatholischen) Salvatorkapelle statt (weshalb die zeitgenössische Presse Felder auch als "Pfarrer von St. Wipplingen" apostrophierte). Am 12. September 1870 gaben sich die konfessionslose, ehemalige Christin Marie Fürstenthal und der konfessionslose, aus dem Judentum ausgetretene Moriz Engel das Jawort.
"Dispensehe", "Sever-Ehe"
Für Katholikinnen und Katholiken sah die zivile Ehegerichtsbarkeit vor 1938 keine Form der Ehescheidung vor, die eine Wiederverheiratung möglich gemacht hätte. Das Eheband wurde einzig durch den Tod eines Ehepartners gelöst. In seiner Funktion als Landeshauptmann von Niederösterreich erließ der Sozialdemokrat Albert Sever eine Verordnung, die es aufgrund des "Dispenses" des Landeshauptmanns geschiedenen Katholikinnen und Katholiken ermöglichte, eine neue Ehe einzugehen. Diese sogenannten "Sever-Ehen" blieben, da sich der Verfassungsgerichtshof und der Oberste Gerichtshof in der Sache nicht einigen konnten, bestehen. Bis 1920 erteilte Sever rund 11.000 Ehedispense, wodurch in Niederösterreich tausende "wilde" Ehen legalisiert und etwaige uneheliche Kinder legitimiert wurden.
Von christlichsozialer Seite wurden diese Dispensehen strikt abgelehnt. Im Prozess der Loslösung Wiens von Niederösterreich waren die "Sever-Ehen" beziehungsweise eine von sozialdemokratischer Seite geforderte Ehereform wiederholt Zankapfel zwischen den beiden Parteien. Nach der Trennung von Wien und Niederösterreich wurden in Niederösterreich keine Dispensehen mehr geschlossen. Im neu entstandenen Bundesland Wien hingegen, führte man die Dispenspraxis fort. Die programmatische Publikation Das neue Wien gibt darüber Auskunft, dass im Zeitraum zwischen Ende 1920 und 1925 mehr als 22.000 Dispense erteilt und etwa 12.500 Ziviltrauungen geschlossen wurden.
Konkordat 1934 und deutsches Eherecht
Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime übertrug die Eherechtsangelegenheiten für Katholikinnen und Katholiken mit dem Konkordat von 1934 neuerlich an die katholische Kirche. Der endgültige Durchbruch der Zivilehe erfolgte in Österreich (und Wien) erst mit dem (deutschen) Ehegesetz 1938, das nach dem Zweiten Weltkrieg in österreichisches Recht übergeleitet wurde. Seither gilt für alle EhewerberInnen ausnahmslos und ausschließlich das staatliche Eherecht. Zur rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern in der Ehe kam es erst durch die Reformen unter der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys in den 1970er Jahren.
Trauungen in Wien (im jeweiligen Gebietsumfang)
- 1865: 4.369
- 1880: 5.975
- 1890: 7.292
- 1900: 16.527
- 1910: 18.713
- 1923: 19.732
- 1934: 13.208
- 1938: 29.922
- 1940: 26.202
- 1950: 15.897
- 1960: 14.376
- 1970: 12.891
- 1980: 9.994
- 1990: 10.723
Quellen
- Wienbibliothek Digital: Das neue Wien. Städtewerk. Wien: 1927, S. 83–87
- ALEX: Ehepatent vom 16.01.1783
- Wienbibliothek digital: Die bürgerliche Ehe und die Vortheile derselben beider Geschlechter. Wien: 1848
- ALEX: Kaiserliches Patent vom 5.11.1855 (Konkordat)
- ALEX: Gesetz vom 25.05.1868 (Maigesetze)
- ANNO: Die erste Zivilehe in Wien. In: Gemeinde-Zeitung, 07.09.1870, S. 4
- ANNO: Trauungen der Herren Pfarrer von St. Wipplingen. In: Gemeinde-Zeitung, 24.11.1877, S. 4
Literatur
- Marie-Noëlle Yazdanpanah: Gleichberechtigt? Frauen als Wählerinnen und politische Akteurinnen. In: Wien wird Bundesland. Die Wiener Stadtverfassung 1920 und die Trennung von Niederösterreich. Hg. von Bernhard Hachleitner und Christian Mertens. Wien: Residenz Verlag 2020, S. 115–128
- Ursula Floßmann: Österreichische Privatrechtsgeschichte. 6., aktualisierte Auflage. Wien / New York: Springer 2008, S. 83–85
- Universität Wien: Ehen vor Gericht 2.0 [Stand: 17.10.2019]
- Georg Tschannett: Zerrissene Ehen. Scheidungen von Tisch und Bett in Wien (1783–1850). Diss. Univ. Wien. Wien 2015 [Stand: 17.10.2019]