Verfassungsgerichtshof
Verfassungsgerichtshof (VfGH). Im heutigen Österreich einer der beiden "Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts", die in der Bundesverfassung vorgesehen sind (vergleiche Verwaltungsgerichtshof) und in Wien ihren Sitz haben.
Der Verfassungsgerichtshof hat auf Antrag ("Beschwerde") festzustellen, ob durch ein von den gesetzgebenden Körperschaften (Nationalrat, Bundesrat, Landtag) beschlossenes Gesetz die Bundes- oder Landesverfassung verletzt wurde; weiters obliegt ihm die Entscheidung über Zuständigkeitskonflikte zwischen Bund und Ländern, über Anklagen gegen den Bundespräsidenten und Mitglieder der Bundesregierung beziehungsweise der Landesregierungen sowie über die Anfechtung von Nationalrats- und Landtagswahlen. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet auf Antrag auch darüber, ob in der letzten Instanz entschiedene Verwaltungsvorgänge verfassungswidrig sind und daher aufgehoben werden müssen. (Es steht dem Verfassungsgerichtshof frei, verfassungswidrige Vorgänge mit sofortiger Wirkung aufzuheben oder dem Gesetzgeber zur Behebung der Verfassungswidrigkeit eine Frist zu setzen.)
Der Verfassungsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, zwölf weiteren Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern, die sämtlich vom Bundespräsidenten ernannt werden, wozu die Bundesregierung, der Nationalrat und der Bundesrat Vorschläge erstatten. Der Bundespräsident muss einen Vorschlag nicht annehmen, kann aber die Ernennung nur aufgrund eines solchen Vorschlags vornehmen. Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs üben ihr Amt neben ihrem Beruf aus und sind unabsetzbar.
Geschichte
Vorläufer des Verfassungsgerichtshofs waren das am 18. April 1869 geschaffene Reichsgericht (für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, vulgo Cisleithanien, heute: Altösterreich) und das am 28. Juli 1867 geschaffene Staatsgericht (letzteres nur für Anklagen gegen k. k. Minister zuständig). Die Kompetenzen beider gingen auf den von der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich am 25. Jänner 1919 beschlossenen Verfassungsgerichtshof über. Seine definitive Regelung erfolgte in der von der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich am 1. Oktober 1920 beschlossenen und am 10. November 1920 in Kraft getretenen Bundesverfassung.
Die christlichsoziale Bundesregierung Dollfuß veranlasste im Frühjahr 1933 die konservativen Verfassungsrichter zum Rücktritt, sodass der Verfassungsgerichtshof nicht mehr beschlussfähig war. Die diktatorischen Maßnahmen Dollfuß' konnten daher vom sozialdemokratisch geführten Bundesland Wien nicht mehr vor dem Verfassungsgerichtshof angefochten werden.
Die folgende Ständestaatsdiktatur errichtete mit 24. April 1935 einen Bundesgerichtshof, der Agenden des Verfassungs- und des Verwaltungsgerichtshof erhielt. Er amtierte bis zum "Anschluss" an das nationalsozialistische Deutsche Reich am 13. März 1938.
Am 12. Oktober 1945 wurde der Verfassungsgerichtshof von der Provisorischen Staatsregierung unter Karl Renner in seinem früheren Wirkungskreis wiederhergestellt. (Das Parlament bestand erst wieder vom Dezember 1945 an.)
Sitz
Der Verfassungsgerichtshof befand sich 1919-1925 am Sitz des vormaligen Reichsgerichts, 1., Schillerplatz 4 (dort kein Eingang, Eingänge in der Elisabethstraße und der Nibelungengasse). 1925-1933 beziehungsweise 1934 amtierte er im Parlamentsgebäude; der Bundesgerichtshof amtierte zunächst ebendort, 1936-1938 in der Böhmischen Hofkanzlei (1., Judenplatz 11), wo der Verfassungsgerichtshof dann 1946-2012 seinen Sitz hatte.
Seit August 2012 ist der Verfassungsgerichtshof in einem ehemaligen Bankgebäude (1., Renngasse 2, Adresse aus diesem Anlass geändert auf: Freyung 8) untergebracht. Im gleichen Gebäude besteht das Bank Austria Kunstforum, ein Ausstellungslokal der UniCredit Bank Austria AG (in der auch die ehemalige Zentralsparkasse der Gemeinde Wien aufgegangen ist) unter anderem für die bankeigene Kunstsammlung.
Präsidenten
- Paul Vittorelli (1919–1930)
- Ernst Durig (1930–1934, 1934–1938 Präsident des Bundesgerichtshofs)
- Ernst Durig (1945–1946)
- Ludwig Adamovich senior (1946–1955)
- Gustav Zigeuner (1956–1957)
- Walter Antoniolli (1958–1977)
- Erwin Melichar (1977–1983)
- Ludwig Adamovich junior (1984–2002)
- Karl Korinek (2003–2008)
- Gerhart Holzinger (2008-2017)
- Brigitte Bierlein (2018–2019)
- Christoph Grabenwarter (2020 -)
Literatur
- Thomas Olechowski: Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs 1933. In: Bernhard Hachleitner / Alfred Pfoser / Katharina Prager / Werner Michael Schwarz [Hg.]: Die Zerstörung der Demokratie. Österreich, März 1933 bis Februar 1934. Salzburg / Wien: Residenz Verlag 2023, S. 156–159
- Richard Bamberger [Hg.]: Österreich-Lexikon in zwei Bänden. Wien: Verlags-Gemeinschaft Österreich-Lexikon 1995
- Wilhelm Deutschmann / Herbert Spehar / Peter Wrabetz: 200 Jahre Rechtsleben in Wien. Advokaten, Richter, Rechtsgelehrte. Wien: Eigenverlag 1985 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 96)
- Felix Ermacora: Der Verfassungsgerichtshof. Graz / Wien: Styria 1956
- Ernst C. Hellbling: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Ein Lehrbuch für Studierende. Wien: Springer 1956 (Rechts- und Staatswissenschaften, 13) (Register)
- Kurt Heller: Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 2010
- Gerhart Holzinger / Martin Hiesel [Hg.]: Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Bestimmungen des B-VG und anderer Bundesverfassungsgesetze über den VfGH, das VfGG und die Geschäftsordnung des VfGH. 3., völlig überarbeitete Auflage, Wien 2009
- Nikolaus Schwärzler [red.] / Erwin Melichar / Walter Rath [Hg.]: Die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Informationsschrift über den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof. Wien: Eigenverlag 1983 (enthält auch: Das Palais der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei)