Psychiatrie

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Letzte Änderung am 23.11.2020 durch WIEN1.lanm08wei

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Die Zeit des "Narrenturms"

Obwohl schon zur Zeit Maria Theresias in Wien Geisteskranke im St. Marxer Spital gepflegt wurden und Leopold Augenbrugger, der Begründer der ersten physikalischen Untersuchungsmethode (Perkussion) 1761 von Krankheiten sprach, die von „affectionibus animi" abhängen sollten, wurde doch erst unter Joseph II. das ebenso berühmte wie berüchtigte „Tollhaus" (1784) im Bereich des neu adaptierten Allgemeinen Krankenhaus erbaut (Narrenturm). Der Hauptzweck dieser Anstalt war, die Patienten vor sich selbst und die Mitmenschen vor ihnen zu schützen. Die dort beschäftigten Ärzte verfügten über keine spezifische Ausbildung. Erst 1817 wurde ein ständiger ärztlicher Leiter eingesetzt. Ab 1839 wurden Ketten und mechanische Apparate zur "Ruhigstellung" der Patienten entfernt. Franz Anton Mesmer führte zu dieser Zeit in Wien seine „magnetischen Kuren" durch, in der Annahme, durch Strahlen aus der Atmosphäre eine dem Magnet ähnliche Wirkung auf den Organismus auszuüben. Heute wird er vielfach als Pionier der Hypnosetherapie angesehen. Bruno Görgen richtete für wohlhabende Patienten in Oberdöbling eine private Irren-Pflegeanstalt ein. Die Therapie bestand darin, dass die Patienten tun konnten was sie wollten. Ernst von Feuchtersleben verfaßte 1845 sein „Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde", und seine „Diätetik der Seele". Er wurde zum Vorläufer der psychosomatischen Medizin.

Psychiatrische Kliniken

Jaromir von Mundy, der 1881 die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft begründete, hielt ab 1866 Vorlesungen über Psychiatrie an der medizinisch-chirurgischen Josephs-Akademie. 1853 wurde am Bründlfeld (9) die k. k. Heil- und Pflegeanstalt eröffnet, in der 1870 der dort seit 1866 wirkende Prosektor Theodor Meynert auf Betreiben des Pathologen Carl Rokitansky eine psychiatrische Klinik einrichtete. Ab dieser Zeit setzte sich die "no restraint"-Therapie dort durch. Später kam diese an Maximilian Leidesdorf, weil Meynert als Repräsentant der „anatomischen Klinik" 1870 die II. psychiatrische Klinik im Allgemeinen Krankenhaus übernahm. Leidesdorf begründete den klinisch-psychiatrischen Universitätsunterricht.

Krafft-Ebing, Freud und Wagner-Jauregg

Schon in den 1870er Jahren gab es in der Anstaltspsychiatrie im Gegensatz zur Universitätspsychiatrie eine philanthropische Richtung die auf sanfte Heilungsmethoden setzte. Richard Krafft-Ebing gelang es beide Richtungen wieder zu vereinen. Krafft-Ebing wurde zum Propagator der forensischen und Sexualpsychiatrie (von ihm stammen die Begriffe Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Zwangsvorstellung und Dämmerzustand) der Nachfolger Leidesdorfs. Die gehirnanatomische Richtung war für Krafft-Ebing nur noch Hilfswissenschaft der Psychiatrie. Er begründete die moderne Sexualpathologie. Zu seinen zahlreichen Schülern zählten Paul Karplus und Alfred Fuchs.

Julius Wagner-Jauregg, der 1927 den Nobelpreis für die von ihm angegebene Malariatherapie bei progressiver Paralyse erhielt, lehrte 1893-1928 in Wien. Sein Schüler und Freund Constantin Economo gründete das Hirnforschungsinstitut in Wien. Ab der Jahrhundertwende schuf Sigmund Freud in Wien die Psychoanalyse als später weltweit gültiges Forschungsfeld und therapeutisches Verfahren. Nachfolger von Wagner-Jauregg wurde Otto Pötzl. 1907 erhielt Wien „Am Steinhof“ nach der Hauptdisposition Otto Wagners die großangelegte neue psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt. Otto Kauders und Hans Hoff leiteten nach dem Zweiten Weltkrieg die Psychiatrische Universität-Klinik.


Literatur

  • Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u.a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 175-186, S. 373-405.
  • Erich Menninger-Lerchenthal: Auenbrugger als Psychiater. In: Wiener medizinische Wochenschrift 51/52 (1953), S. 970-1971
  • Max Neuburger: Feuchtersleben als Psychiater und Psychotherapeut. In: Wiener medizinische Wochenschrift 24 (1933), S. 662-664
  • Max de Crinis: Meynert in seinem Einfluß auf die moderne psychiatrische Forschung. Festvortrag gehalten in der Meynen-Gedächtnissitzung der Wiener Medizinischen Gesellschaft am 29. Mai 1942. In: Wiener klinische Wochenschrift 55 (1942) S. 781-786
  • Zur Geschichte der Psychiatrie in Wien. Eine Bilddokumentation = Psychiatry in Vienna. Wien: Brandstätter 1983
  • Isidor Fischer: Zur Geschichte der Wiener Psychiatrie im XIX. Jahrhundert. In: Wiener medizinische Wochenschrift 37 (1927), S. 1219-1223
  • Helmut Wyklicky: Gehirnanatomie, Psychologie, Psychophysik und Irrenpflege als Problem von 1868. In: Österreichische Ärztezeitung 2 (1968), (Artikel auf der Rückseite des Titelblattes)
  • Albrecht Hirschmüller: Freuds Begegnung mit der Psychiatrie. Von der Hirnmythologie zur Neurosenlehre. Tübingen: Ed. diskord 1991
  • Helmut Gröger: Die Wiener Psychiatrie in ihrer Entwicklung. In: Kunst des Heilens. Aus der Geschichte der Medizin und Pharmazie. Niederösterreichische Landesausstellung Kartause Gaming 4. Mai - 27. Oktober 1991. [Hrsg. Amt der NÖ Landesregierung, Abt. III/2, Kulturabteilung. Schriftleitung Gottfried Stangler ...]. Wien: Amt der NÖ Landesregierung, Abt. III/2 1991 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums: Neue Folge, 276), S. 788-799
  • Gerto Lorusso: Personalbibliographien von Professoren und Dozenten der Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien im ungefähren Zeitraum von 1950-1969. Mit kurzen biographischen Angaben und Überblick über die Sachgebiete. Med. Diss., Univ. Erlangen-Nürnberg. Erlangen 1970
  • Frank Ehlert: Personalbibliographien von Professoren und Dozenten der Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien im ungefähren Zeitraum von 1925-1945. Mit biographischen Angaben und Überblicken über die Hauptsachgebiete. Med. Diss., Univ. Erlangen-Nürnberg. Erlangen 1972
  • Gisela Pointner: Personalbibliographien von Professoren und Dozenten der Psychiatrie und Neurologie an der Wiener Medizinischen Fakultät im ungefähren Zeitraum 1880-1920. Med. Diss., Univ. Erlangen-Nürnberg. Erlangen 1972