Lise Meitner
Lise Meitner, * 7. November 1878 Wien, † 27. Oktober 1968 Cambridge, Friedhof Bramley, Großbritannien, Atomphysikerin.
Biografie
Lise - eigentlich Elise - Meitner war eines von acht Kindern des Ehepaars Dr. Philipp und Hedwig Meitner (geb. Skowran). Sie wuchs in der dynamischen Welt des gerade im demographischen, sozialen und kulturellen Aufbruch befindlichen Wien auf. Ihr Umfeld war das des assimilierten jüdischen Bürgertums. Der Vater, ein Rechtsanwalt, konnte der Familie den Lebensstil der Oberschicht mit vielen Bediensteten und dem Luxus der Zeit ermöglichen. Das Klima im Haushalt und dem sozialen Umfeld war liberal und geprägt von aufklärerischem Gedankengut, was sich nicht zuletzt in einer relativen Gleichbehandlung der männlichen und weiblichen Kinder in der Familie äußerte. Selbstständig und ohne Anleitung anderer denken und handeln zu können, war ein hohes Gut. Diese Ideale standen jedoch in starkem Kontrast zu dem zeitgleich existierenden massiven Antisemitismus in der Gesellschaft. Diskriminierung war Alltag und auch die Gleichstellung der Frauen noch ein fernes Zukunftsbild. So musste Lise Meitner das so genannte Mädchengymnasium besuchen, da es weiblichen Kindern in Österreich-Ungarn nicht gestattet war, eine höhere zur Universität hinführende Schule zu besuchen.
Sie schloss diese Schule 1896 erfolgreich ab, wollte mit 18 Jahren aber dennoch die Universität besuchen. Ihr Vater, als Freidenker bekannt, unterstützte sie dabei, verlangte jedoch, dass sie auch einen Brotberuf erlernen sollte. Diesem Wunsch kam sie nach, legte vor ihrem Studium die Staatsprüfung als Französischlehrerin ab und unterrichtete dieses Fach auch fast zwei Jahre - wieder an an einer Mädchenschule. Mit zwanzig durfte Sie sich schließlich auf die Matura vorbereiten, denn dies war die Voraussetzung für die Studienzulassung. Mit zwei anderen Frauen, die dasselbe Ziel hatten, bekam sie vorbereitenden Privatunterricht bei Dr. Arthur Szarvasy, der für Ludwig Boltzmann am Institut für Physik der Universität Wien arbeitete. Mathematik und Physik waren mithin Schwerpunkte des Unterrichts, der auch durch Besuche im Experimentallabor des Instituts bereichert wurde. 1901 trat Lise Meitner schließlich als Externistin mit vierzehn anderen Wienerinnen an einem Jungengymnasium zur Matura an. Sie war eine der vier Frauen in diesem Jahr, die die Prüfungen positiv bestanden hatten und konnte so schließlich mit 23 Jahren an der Universität Wien immatrikulieren. Von 1901 bis 1905 studierte sie Physik, Mathematik, Botanik und das für alle Studierenden damals verpflichtende Fach der Philosophie. Sie war im Übrigen die erste Frau in Österreich, die eine Physikvorlesung an einer Hochschule besuchte. Großen Einfluss auf ihr Denken hatte Ludwig Boltzmann mit seiner als Form angewandter Mathematik gedachten Physik, die sich den positivistischen Auffassungen jener Zeit entgegenstellte, in der Wissenschaft oft als abbildtheoretisches Konstrukt und damit bloße Form der Mimesis gedacht wurde, in der nichts erfunden, sondern maximal vorsichtig ergänzt werden durfte. Die charismatischen Vorlesungen des streitbaren Boltzmann überzeugten Meitner davon, sich auf das Fach der Physik zu spezialisieren. So begann sie 1905 bei Franz Exner ihre Dissertation in diesem Fach zu Wärmeleitung in nichthomogenen Körpern zu schreiben und promovierte damit ein Jahr später als zweite Frau in Wien im Hauptfach Physik. Mit ihrem Abschluss bewarb sie sich gleich bei Marie Curie in Paris, wurde jedoch nicht genommen und arbeitet sodann am Institut für Theoretische Physik in Wien, wo sie zum Phänomen der Radioaktivität forschte.
Als im Jahr 1907 Max Planck, der Begründer der Quantentheorie, als Gastvortragender nach Wien kam, erkannte sie rasch, dass sie bei ihm studieren müsse, um ihre Forschung vorantreiben zu können. Mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters ging sie also nach Berlin und inskribierte dort an der Universität, um Plancks Vorlesungen hören zu können. Die kulturellen Unterschiede waren deutlich. Planck empfing Meitner sehr freundlich, wunderte sich jedoch, warum eine Frau ein tieferes Verständnis von Physik erwerben und weiterstudieren wollte, obwohl sie doch schon ein Doktorat hätte und sich daher ihrer scheinbar biologisch determinierten Aufgabe des Kinderbekommens widmen könnte. Meitner blieb hartnäckig, lernte den Vorurteilen mit Beständigkeit zu begegnen und überzeugte durch ihre präzise Arbeitsweise in der vom trockenen gleichförmigen Stil Plancks geprägten akademischen Welt Berlins, die so ganz anders funktionierte, als die mitreißende Vorlesungs- und Debattenkultur Boltzmanns in Wien.
Im selben Jahr lerne sie Otto Hahn kennen, der sich gerade in im Fach Chemie habilitierte und Interesse am selben Forschungsfeld wie Meitner hatte. Aus diesem anfänglichen Interesse sollten sich fast 30 Jahre des gemeinsamen Arbeitens und Forschens ergeben. Am Chemischen Institut in Berlin entwickelten sie zusammen eine Theorie zum radioaktiven Rückstoß beim Zerfall von Substanzen, klärten Grundfragen zur Beta- und Gamma-Strahlung und nutzten die Erkenntnisse, um in den folgenden Jahren eine Anzahl neuer radioaktiver Nukleotide zu entdecken. Diese Arbeiten waren so erfolgreich, dass sie Größen des Faches wie Albert Einstein oder Marie Curie nun persönlich kennenlernen konnte. Wohl aus einer bestimmten Pragmatik heraus trat sie schließlich 1908 auch aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus und ließ sich nach protestantischem Ritus taufen.
Ab 1912 arbeitete sie mit Hahn an der eigens zur Erforschung der Radioaktivität aufgebauten Forschungsabteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Bis 1915 war sie zudem – nicht offiziell – Assistentin von Max Planck am Institut für theoretische Physik. 1913 wurde sie wissenschaftliches Mitglied des Instituts und bezog zum ersten Mal ein Einkommen aus ihrer Arbeit als Physikerin.
Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie ein Jahr als Röntgenschwester in einem Feldlazarett der österreichisch-ungarischen Armee an der Front, kehrte jedoch 1916 wieder nach Berlin an das Chemische Institut zurück. Auch Hahn, der übrigens inzwischen Giftgas-Kampfstoffe für die deutsche Armee entwickelt hatte, wurde nach Berlin versetzt und so konnten beide ihre Forschung fortsetzten. Auch Meitner war alles andere als eine Kriegsgegnerin, beteiligte sich aber nicht an der Waffenproduktion. 1917 gelang ihnen ein großer Erfolg mit der Entdeckung des Isotops Protactinium 231. Während Hahn stets an der Neuentdeckung von Isotopen interessiert war, versuchte Meitner die unterschiedlichen Strahlungsformen bei deren Zerfall detailliert zu erforschen.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begann für Lise Meitner ein deutlicher beruflicher Aufstieg absehbar zu werden. 1918 erhielt sie die Leitung einer eigenen radiophysikalischen Abteilung am Chemischen Institut, 1922 habilitierte sie sich "Über die Entstehung der Beta-Strahl-Spektren radioaktiver Substanzen" und ab 1923 lehrte sie an der Universität. 1925 erhielt sie den Ignaz-Lieben-Preis für ihre Arbeiten über Beta-und Gamma-Strahlen und 1926 wurde sie schließlich zur außerordentlichen Professorin berufen. Ihre Karriere verlief die kommenden Jahre stetig.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 schützte sie nur ihr österreichischer Pass vor systematischer Verfolgung. Obwohl sie weiter an ihrem Institut forschen konnte, wurden ihr jedoch im September des Jahres die Lehrbefugnis und der Titel aufgrund der rassistischen Gesetzgebung des neuen Regimes entzogen. Sie blieb trotzdem in Berlin und setzte ihre Forschungen fort. Mit dem "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland verlor sie 1938 ihren Ausländerinnen-Status und war nun den Verfolgungen des Terrorregimes auch rechtlich schutzlos ausgeliefert. Mit Unterstützung von Otto Hahn und zweier anderer Physiker-Kollegen konnte sie rasch ohne Visum in die Niederlande fliehen. Von dort aus emigrierte sie über Dänemark nach Schweden. Am Nobel-Institut erhielt sie mit Hilfe des Physikers Manne Siegbahn eine Anstellung, jedoch waren die Arbeitsbedingungen für ihre Forschung ungeeignet, da z.B. alleine schon die notwendigen Messgeräte für radioaktive Strahlung fehlten.
Im Dezember desselben Krisenjahres 1938 konnten Otto Hahn und Fritz Strassmann ein 1934 mit Meitner gestartetes Forschungsprojekt zur Kernspaltung erfolgreich abschließen, für das Hahn dann alleine 1944 den Nobelpreis erhielt. Der nicht unwesentliche Beitrag Meitners und Strassmanns blieb unerwähnt. Sie empfand es stets als unangemessen, dass Hahn sie seitdem nur mehr als "einfache Mitarbeiterin" bezeichnete, obwohl sie intellektuell einen bedeutenden Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltung geleistet und nicht zuletzt den zuständigen Fachbereich am Chemischen Institut in Berlin 21 Jahre ganz offiziell geleitet hatte. Ihre über hundert publizierten Beiträge, die sie bis 1938 zu den gemeinsamen Forschungen erarbeitet hatte, zeugen davon und nicht zuletzt geht auch der Begriff "Kernspaltung" nachweislich auf sie zurück. In der deutschsprachigen Wissenschaftsgeschichte sollten viele Jahrzehnte vergehen, bis sie nicht mehr nur als "Fräulein Meitner, die Mitarbeiterin Hahns" maximal in einem Nebensatz Erwähnung fand.
Nach dem Ende des NS-Terrors ist sie zumindest in den Vereinigten Staaten für die Herabwürdigung durch Hahn entschädigt worden. Während des Kriegs korrespondierte sie mit zahlreichen Persönlichkeiten in den USA, die ihre Pionierrolle nicht vergessen hatten und 1946 wurde sie dort zur "Frau des Jahres" gewählt. Zudem erhielt sie im selben Jahr eine Gastprofessur an der katholischen Universität in Washington D.C.. Danach ging sie 1947 nach Stockholm zurück und übernahm eine Forschungsprofessur an der Königlich-Technischen Hochschule. Trotz allem noch österreichische Staatsbürgerin, nahm sie 1948 die Einladung an, als korrespondierendes Mitglied in die Österreichische Akademie der Wissenschaften aufgenommen zu werden. Stellenangebote aus Deutschland lehnte sie jedoch ab. Sie hätte erhebliche Bedenken wegen der "geistigen Mentalität" dort gehabt und sie hätte sich nicht dem permanenten Vorwurf aussetzten wollen, sie verstünde die deutschen Verhältnisse nicht, weil sie Österreicherin sei oder weil sie jüdischer Herkunft sei, schrieb sie später.
Sie blieb bis zu ihrem fünfundsiebzigsten Lebensjahr in Stockholm als Professorin aktiv, nahm auch zusätzlich die schwedische Staatsbürgerschaft an und ging 1953 nach schwedischem Recht offiziell in Pension. 1960 zog sie nach Cambridge in Großbritannien, um bei ihrem dort wohnenden Neffen und seiner Familie zu leben. Kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag verstarb die bedeutende Physikerin und Entdeckerin der Kernspaltung Lise Meitner wenige Monate nach dem Tod ihres ehemaligen Mitarbeiters Otto Hahn am 27. Oktober 1968 an der Wende zu einem neuen Zeitalter der Emanzipation, das sie durch ihr mutiges Leben vorzubereiten half.
Literatur
- David Rennert / Tanja Traxler: Lise Meitner. Pionierin des Atomzeitalters. Wien/Salzburg: Residenz 2018
- Anna L. Staudacher: Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782-1914. Band 2. Frankfurt am Main/Wien: Lang 2004
- Hanns Jäger-Sunstenau: Die Ehrenbürger und Bürger ehrenhalber der Stadt Wien. Wien: Deuticke 1992 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 23), S. 86
- Patricia Rife: Lise Meitner. Ein Leben für die Wissenschaft. Düsseldorf: Claassen 1990
- Österreichische Akademie der Wissenschaften: Almanach. Band 119. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1969, S. 345 ff.
- Richard Bamberger / Franz Maier-Bruck: Österreich-Lexikon in zwei Bänden. Band 2: L-Z. Wien: Österreichischer Bundesverlag / Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1967
- Lebendige Stadt. Almanach. Band 10. Wien: Amt für Kultur, Volksbildung und Schulverwaltung der Stadt Wien 1963, S. 164 f.
- Robert Teichl: Österreicher der Gegenwart. Lexikon schöpferischer und schaffender Zeitgenossen. Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1951
- Neue österreichische Biographie. 1815–1918. Band 1. Wien [u.a.]: Amalthea-Verlag 1923
- Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Altmatriken / Matriken-Zweitschriften der Israelitischen Kultusgemeinde, Geburtenbuch, Band G 1878-1880, Zahl 1820
- Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Altmatriken / Matriken-Zweitschriften der Israelitischen Kultusgemeinde, Austritte, Band 1908, Zahl 460