Nordwestbahnhof
48° 13' 33.73" N, 16° 23' 2.04" E zur Karte im Wien Kulturgut
Der Nordwestbahnhof (2. Bezirk, seit 1900: 20. Bezirk) war baugeschichtlich der letzte in der Reihe der großen Kopfbahnhöfe, errichtet 1870-1873 nach Plänen von Wilhelm Bäumer durch Theodor Reuter für die am 8. September 1868 konzessionierte Nordwestbahn.
An dieser Stelle befand sich zuvor ab 1834 das Vergnügungsetablissement „Universum". Dem Bau des Nordwestbahnhofs fiel ein Teil des Augartens zum Opfer. Da das Baugelände sumpfig war, musste es bis zu vier Meter aufgeschüttet werden. Die Bahn selbst entstand unter der Leitung von Baudirektor Wilhelm Hellwag (Hellwagstraße). Der Betrieb ab Wien wurde am 1. Juni 1872 aufgenommen. Der Hauptlinie der Nordwestbahn, die als Rückgrat einer neuen Handelsverbindung zwischen der Ostsee, Berlin, Dresden und Wien große wirtschaftliche Bedeutung besaß, wurde die bereits 1841 vollendete Strecke Jedlesee-Stockerau angegliedert.
Die allegorischen Figuren für die bedeutendsten mit der Nordwestbahnhof erreichbaren Städte an der Abfahrtsseite des Gebäudes stammten von Franz Melnitzky. An der weiteren künstlerischen Ausgestaltung waren die Maler Hermann Burghart (Wartesalon erste Klasse) sowie die Bildhauer Franz Schönthaler und Rudolf Winder (Hofsalon) beteiligt. Die Abfahrtshalle wurde nach der damaligen modernsten Technik ausgeführt. Sie war 125 Meter lang und 39 Meter breit und überspannte fünf Gleise ohne Zwischenstützen. Karl Karger, der einzige Maler, der im 19. Jahrhundert ein großes, bedeutendes Gemälde von einem Wiener Bahnhof schuf, wählte die Abfahrtshalle des Nordwestbahnhofs als Motiv.
Am 11. Februar 1913 wurde in der Halle des Nordwestbahnhofs der von einer Wahlveranstaltung in Stockerau zurückkehrende sozialdemokratische Politiker Franz Schuhmeier von Paul Kunschak aus politischen Gründen erschossen.
Da der Personenverkehr nach Mähren stark zurückgegangen war, wurde der Nordwestbahnhof am 1. Februar 1924 stillgelegt. Der Personenzugverkehr wurde nur mehr vom Nordbahnhof abgewickelt.
Die funktionslos gewordene Nordwestbahnhalle wurde für Ausstellungen sowie politische und sportliche Veranstaltungen adaptiert. So konnte auf einer mit Kunstschnee bedeckten schiefen Ebene (mit Sprungschanze) schigelaufen werden. Nach der Eröffnung dieses "Schneepalasts" (26. November 1927) wurde von Richard Strebinger auf das abfahrende Auto von Bürgermeister Karl Seitz ein Pistolenattentat verübt, doch blieben Seitz und seine Begleiter unverletzt. Am 2. Februar 1934 kam es zu einer großen Demonstration niederösterreichischer Bauern (aus deren Kreisen auch Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß kam), die mit Nachdruck (wenn auch ohne Erfolg) eine Lösung der innenpolitischen Probleme auf friedlichem Wege forderten. Zehn Tage später brachen die offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem sozialdemokratischen Republikanischem Schutzbund und den Regierungsverbänden aus.
Nach der Annexion Österreichs an das Deutsche Reich 1938 verlegten die Nationalsozialisten politische Großveranstaltungen in die Nordwestbahnhalle (beispielsweise hielt hier am 26. März 1938 Hermann Göring seine Rede gegen den politischen Katholizismus, und am 9. April 1938, einen Tag vor der „Volksabstimmung", sprachen hier Hitler und Goebbels und andere nationalsozialistische Spitzenpolitiker). Wenig später diente die Halle der großen antisemitischen Propagandaausstellung „Der ewige Jude" als Quartier, die den Auftakt zu den Judenverfolgungen bildete.
Zwischen 1942 und 1945 befand sich hier ein Zwangsarbeiterlager.
Durch Luftangriffe und sowjetischen Artilleriebeschuss wurde der Nordwestbahnhof gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. Die Nordwestbahnbrücke konnte im Gegensatz zur, von Einheiten des Deutschen Reiches gesprengten, Nordbahnbrücke bereits 1945 wieder befahrbar gemacht werden. Deshalb wurde auf der Nordwestbahn am 25. August 1945 nochmals der Betrieb aufgenommen. Die Nordwestbahnstrecke stand bis Floridsdorf in Betrieb, am 30. Mai 1959 wurde dieser allerdings endgültig eingestellt und auf die Nordbahn verlegt, die inzwischen wieder genützt werden konnte. Das schwer beschädigte Empfangsgebäude des Nordwestbahnhofs war bereits ab 14. September 1952 abgetragen worden.
An der Taborstraße (Nummer 89-93) entstanden Wohnhäuser, die ab 1974 elektrifizierten Gleisanlagen behielten für den Frachtverkehr ihre Bedeutung; zahlreiche Speditionsfirmen siedelten sich in der Nähe des Nordwestbahnhofs mit Lagerhallen und Büros an.
2006 beschlossen die ÖBB den Frachtverkehr schrittweise in das 2016 eröffnete Güterzentrum Wien Süd zu verlegen[1]. Ende 2021 wurde der Nordwestbahnhof endgültig stillgelegt. Auf dem Gelände soll bis 2033 ein Stadtentwicklungsgebiet mit 10 Hektar Grünraum, 5.000 Arbeitsplätzen und 6.500 Wohnungen entstehen[2].
Siehe auch: Nordwestbahnstraße.
Quellen
Akt der Feuer- und Sicherheitspolizei zur Nordwestbahnhofhalle mit Projekt der Schi- und Rodelbahn:
- WStLA, M.Abt.104, A8: 33 - Nordwestbahnhofhalle
- Wien Museum Online Sammlung: hochauflösende Abbildungen zum Nordwestbahnhof
Weblinks
- wien.at: Stadtentwicklungsgebiet Nordwestbahnhof (Stand: 31.05.2022)
- Brigittenau: Geschichte des Areals um den Nordwestbahnhof (Stand: 11.1.2017)
Literatur
- Mihály Kubinszky: Bahnhöfe in Österreich. Architektur und Geschichte. 1986, S. 34 ff.
- Felix Czeike: XX. Brigittenau. Wien [u.a.]: Jugend & Volk 1981 (Wiener Bezirkskulturführer, 20), S. 37 ff.
- Die Leopoldstadt. Ein Heimatbuch. Wien: Lehrer-Arbeitsgemeinschaft 1937, S. 322
- Technischer Führer durch Wien. Hg. vom Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein. Red. von Martin Paul. Wien: Gerlach & Wiedling 1910, S. 79 f.
- Wolfgang Kos / Günther Dinhobl (Hg.): Grosser Bahnhof. Wien und die weite Welt (Ausstellungskatalog des Wien Museums, in Kooperation mit dem Technischen Museum Wien), Wien 2006, S. 281
- Paul Kortz: Wien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung. Hg. vom Oesterreichischen Ingenieur und Architekten-Verein. Wien: Gerlach & Wiedling 1905. Band 1, 1905, S. 90 ff.
- Emil Winkler: Technischer Führer durch Wien. Wien: Lehmann & Wentzel 1873, S. 51 ff., S. 202 ff.
- Brigittenauer Heimat. 1921, S. 54 f.
- Österreich in Geschichte und Literatur. Band 33. Wien: Institut für Österreichkunde / Graz: Stiasny 1989, S. 197, Anm. 3
- Allgemeine Bauzeitung. Hg. von Ludwig, Heinrich und Emil Förster. Wien: Förster [u.a.] 1873
- Gustav Gugitz: Bibliographie zur Geschichte und Stadtkunde von Wien. Hg. vom Verein für Landeskunde von Niederösterreich und Wien. Band 4: Profane Topographie nach den 21 Bezirken (2.-21. Bezirk). Wien: Jugend & Volk 1958, S. 27