Physiologie
Die "höhere Anatomie"
Mit dem von Joseph II. 1786 selbst erarbeiteten Stundenplan hatten die bisherigen Anatomen Joseph Barthin Wien und dessen Schüler Georg Prochaska in Prag den makroskopischen Teil der Anatomie als „niedere" oder „gröbere" Anatomie an ihre Prosektoren (Prosektor) abzugeben, den mikroskopischen Teil aber als Ordinarien der „höheren Anatomie und Physiologie" zusammen mit der Augenheilkunde (Ophthalmologie) beizubehalten. 1791 trat Barth in Wien zurück, und Prochaska folgte ihm nach. Dieser leistete vor allem auf dem Gebiet der Sinnesphysiologie und Nervenlehre (Reflexe) Pionierarbeit. Er erforschte die Reflexbewegung aus dem Rückenmark und brachte psychische Leistungen mit bestimmten Teilen des Gehirns in Verbindung. Sein Zweitnachfolger war Joseph Julius Czermak, der auch die vergleichende Anatomie kultivierte.
Physiologie als Experimentalwissenschaft
Auf ihn folgte 1849-1890 Ernst Theodor Ritter von Brücke, der die Physiologie zu einer Experimentalwissenschaft ausbaute. Brücke führte die Laboratoriumsmedizin in Wien ein. Er wurde zum Begründer der österreichischen Physiologen-Schule. Es ging den Vertretern der Schule um die Suche nach den physikalisch-chemischen Kräften des menschlichen Lebens. Brückes Studien setzten bei der Untersuchung des Auges an. Später war es die Stimme und Sprache. In seinem Spätwerk wurde Brücke zum Pionier der Enzymforschung. Nahezu alle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien tätigen bedeutenden klinischen Forscher hatten ihre wissenschaftliche Laufbahn im Laboratorium Brückes begonnen und dort die notwendige Arbeitsmethodik erlernt. Brückes Zeitgenosse Carl Ludwig betrieb Physiologie als angewandte Physik. Ludwig verfasste Arbeiten über Sekretionsnerven, Speichelabsonderung und Lympfbildung. Er entdeckte das Zentrum der gefäßverengenden Nerven im verlängerten Rückenmark.
Am Josephinum war die Physiologie besonders durch Carl Ludwig und Ewald Hering vertreten. Hering war ein Entwicklungsphysiologe. Er veröffentliche sinnesphysiologische Studien. Hering und Josef Breuer entdeckten die Selbststeuerung der Atmung. Hering war mit Ernst Mach befreundet der schon 1863 ein "Compendium der Physik für Mediciner" verfasst hatte. Machs sinnesphysiologisches Hauptwerk erschien 1886 unter dem Titel "Beiträge zur Analyse der Empfindungen". Ernst Fleischl von Marxow entdeckte die elektrische Aktivität des Gehirns und erfand zahlreiche Apparate für physiologische Experimente, vor allem den Hämometer.
Auf Brücke aufbauend, der die Grundlage der Vestibularisforschung gelegt hatte, betrieben Mach, Arthur Kreidl und Robert Bárány diesen Forschungszweig. Bárány erhielt für seine Arbeit "Die Physiologie und Pathologie des Bewegungsapparates" 1907 den Nobelpreis.
Nachfolger auf Brückes Lehrstuhl waren Sigmund Exner-Ewarten und Arnold Durig. Exner-Erwarten war ein Spezialist für Optische Physiologie. Er identifizierte die Netzhautperipherie als Organ der Wahrnehmung von Bewegungen. In der Nachfolge von Brücke sind auch Exners Arbeiten zum Kehlkopf zu sehen. Er entwickelte eine Hirnlokalisationslehre und verfasste Arbeiten zu den Reflexen. Exner führte mechanistisch alle psychischen Erscheinungen auf Nervenreize zurück.
Moderne Physiologie
Nach dem Zweiten Weltkrieg zählten Gustav Schubert und Wilhelm Auerswald zu den bedeutenden Wiener Physiologen.
Literatur
- Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u.a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 89-97, 258-273, 530-548
- Wolfgang John: Personalbibliographien von Professoren und Dozenten der Physiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien im ungefähren Zeitraum 1790-1878. Diss. Univ. Erlangen. Erlangen 1971