Peter Altenberg, * 9. März 1859 Wien, † 8. Jänner 1919 Wien, Schriftsteller.
Biografie
Peter Altenberg, der mit bürgerlichem Namen Richard Engländer hieß, kam am 3. März 1859 in der Wiener Leopoldstadt zur Welt. Er war das erste Kind des wohlhabenden jüdischen Kaufmanns Moriz Engländer und dessen Frau Paulina, geborene Schweinburg. Wie sein Bruder Georg und seine Schwestern Marie und Margarethe wurde er gutbürgerlich erzogen, mit besonderer Nähe zu französischer Literatur und klassischer Musik. Altenberg besuchte das Akademische Gymnasium in Wien und maturierte am Gymnasium der Theresianischen Akademie. Nach abgebrochenem Jus- und Medizin-Studium in Wien begann er eine Buchhändler-Lehre in der Buchhandlung Julius Weise in Stuttgart, kehrte aber bald nach Wien zurück.
1882 wurde ihm ärztlich bescheinigt, dass er aufgrund seiner labilen psychischen Konstitution nicht den Anforderungen einer typischen bürgerlichen Lebensführung gewachsen sei, was zu einer Entfremdung von seiner Familie führte. Es war der Beginn eines unsteten, exzentrischen Bohèmelebens, das sich vorrangig in renommierten Kaffeehäusern, wie dem Central oder dem Herrenhof, abspielte. Altenberg entwickelte sich zu einer legendären Außenseiter-Figur der Wiener Gesellschaft. Er wechselte häufig die Wohnung, kam bei Bekannten oder in Hotels unter; von 1913 bis zu seinem Tod 1919 bewohnte er schließlich ein Zimmer im Grabenhotel, dessen Briefpapier er für seine zahlreichen Briefe und Manuskripte aus dieser Zeit verwendete. Aufgrund psychischer Probleme, verbunden mit Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, hielt sich Altenberg ab Ende 1909 immer wieder in Sanatorien in und um Wien auf. Untergebracht war er etwa in der Villa Austria am Steinhof, der Fango-Heilanstalt in der Lazarettgasse, dem Sanatorium Inzersdorf oder dem Sanatorium Sulz im Wienerwald.
Der Namenswechsel von Richard Engländer zu Peter Altenberg war spätestens mit dem ersten Buch "Wie ich es sehe" vollzogen, das 1896 bei S. Fischer erschien. Inspiriert von Bertha Lecher (1867–1953), einer frühen Liebe Altenbergs, setzte sich der Künstlername aus dem Rufnamen des Mädchens ("Peter") und dem Wohnort der Familie, dem niederösterreichischen Altenberg, zusammen. Erwähnenswert ist, dass mit der Schaffung der Künstlergestalt Peter Altenberg um 1895 auch eine auffällige Veränderung der Handschrift einherging.
Ein früher literarischer Text Altenbergs aus dem Jahr 1879 ist eng mit Bertha Lecher verbunden. Er befindet sich auf einem Exemplar jener bekannten Fotografie, die das Mädchen als 12-jährige zeigt, und ist ein Stück Rollenprosa, in dem sich die Porträtfotografie (das "Lichtbild") an sein "Original" (Bertha Lecher) wendet. Altenbergs dezidiert literarisches Schreiben begann aber laut Selbstaussagen 1894; der erste publizierte Text "Lokale Chronik" ist in der Wiener Zeitschrift "Liebelei" vom 21. Jänner 1896 zu finden. Auf das Debüt "Wie ich es sehe", das von der zeitgenössischen Kritik sehr positiv aufgenommen wurde, folgte das Buch "Ashantee" (1897), mit dem Altenberg seine Besuche der Ashanti-Völkerschau im Sommer und Herbst 1896 in Wien literarisch verarbeitete. Weitere berühmte Altenberg-Titel folgten mit "Was der Tag mir zuträgt" (1901) und "Märchen meines Lebens" (1908). Seiner Gedankenwelt während des Ersten Weltkriegs kann man sich in den Büchern "Fechsung" (1915) und "Nachfechsung" (1916) nähern.
Altenbergs bevorzugte Textgattung für seine Beobachtungen, Reminiszenzen, Einfälle und Kritiken ist die Prosaskizze oder das Prosagedicht. Der Aphorismus herrscht vor allem im Buch "Pròdrŏmŏs" (1906) vor, in dem Altenberg reformerische und diätetische Lebensrezepte auf prägnante Formeln zu bringen suchte. Mit der Schilderung des Alltagslebens und seinen Merkwürdigkeiten, seiner Fin-de-siècle-Stimmung und seinen Aufzeichnungen kultureller Begebenheiten zählt Altenberg zu den Hauptvertretern des literarischen Impressionismus in Wien. Altenberg selbst formte von sich ein Bild des impressionistischen Dichters schlechthin: "Ich habe nie auch die geringste Ahnung von dem, was ich schreibe. Die Ereignisse des Tages scheinen sich, mir unbewußt, in mir selbst abzuphotographieren." (Altenberg, zitiert in Barker 1998, S. 66)
Die Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl konstatiert drei Facetten der Altenberg’schen Prosa: "das Poetisch-Dichte", das die literarisch überzeugendsten Texte auszeichnet, den Hang zur Verklärung und "hymnisch-hohlem Pathos" sowie eine ausgeprägte pädophile Neigung, die von Anfang an und in zahlreichen Texten zum Ausdruck kommt (Polt-Heinzl 2011, S. 53 f.). Seine offen zur Schau gestellte 'Verherrlichung' von Mädchen und jungen Frauen drückt sich auch in seiner Sammlung von Porträtfotografien aus, die heute zu einem großen Teil im Wien Museum aufbewahrt wird.
Neben der literarisch verbrämten Pädophilie, die von der Altenberg-Forschung lange verharmlost wurde, sind es vor allem seine Kriegsbegeisterung sowie seine antisemitischen Äußerungen zusammen mit einer Sympathie für Karl Lueger, die heute kritisch betrachtet werden. Als Protagonist der Wiener Moderne propagierte er außerdem ein ausgesprochen konservatives, fallweise auch misogynes Frauenbild: Die Frau solle alles tun, damit der Mann jene Leistungen vollbringen könne, die die moderne Zeit von ihm verlange (vgl. Altenberg: Geleit 1913).
Frühe Förderer und Bewunderer seines Werks waren Hermann Bahr, Friedrich Eckstein und Arthur Schnitzler. Mit Adolf Loos, zu dessen engstem Freundeskreis er zählte, gab er 1903/1904 die Zeitschrift "Die Kunst" heraus, arbeitete an der "Wiener Rundschau", am "Simplicissimus" und an der "Jugend" mit. Eine enge Freundschaft verband ihn auch mit Karl Kraus. Von diesem Männernetzwerk profitierte er nicht nur privat, sondern auch beruflich. Zusammen wurden Altenberg, Kraus und Loos als "der bessere Dreibund" oder das "geistige Triumvirat Wiens" bezeichnet.
Karl Kraus und Egon Friedell ehrten Altenberg nach seinem Tod durch die Herausgabe ausgewählter Werke, Alfred Polgar gab den "Nachlass" heraus (1925). Die Wienbibliothek im Rathaus besitzt zahlreiche Briefe Altenbergs, darüber hinaus einen Teilnachlass sowie eine umfangreiche Sammlung von Manuskripten zu den Büchern "Fechsung" und "Nachfechsung". Eine lebensgroße bemalte Sitzfigur Altenbergs befindet sich im wiedereröffneten Café Central.
Nach dem Schriftsteller wurde die Peter-Altenberg-Gasse im 19. Wiener Gemeindebezirk bekannt. An seiner Geburtsadresse im zweiten Wiener Gemeindebezirk wurde am 19. April 1969 eine Gedenktafel enthüllt. Das Grabkreuz sowie die Gestaltung des Granitquaders für Altenbergs Grab auf dem Zentralfriedhof entwarf Adolf Loos. Die Grabinschrift lautet: "Er liebte und sah".
Werke
- Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin: S. Fischer 1896
- Peter Altenberg: Ashantee. Berlin: S. Fischer 1897
- Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Fünfundsechzig neue Studien. Berlin: S. Fischer 1901
- Peter Altenberg: Pròdrŏmŏs. Berlin: S. Fischer 1906
- Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin: S. Fischer 1908
- Peter Altenberg: Die Auswahl aus meinen Büchern. Berlin: S. Fischer 1908
- Peter Altenberg: Bilderbögen des kleinen Lebens. Berlin-Westend: Reiss 1909
- Peter Altenberg: Neues Altes. Berlin: S. Fischer 1911
- Peter Altenberg: Semmering 1912. Berlin: S. Fischer 1913
- Peter Altenberg: Fechsung. Berlin: S. Fischer 1915
- Peter Altenberg: Nachfechsung. Berlin: S. Fischer 1916
- Peter Altenberg: Vita ipsa. Berlin: S. Fischer 1918
- Peter Altenberg: Mein Lebensabend. Berlin: S. Fischer 1919
- Peter Altenberg: Das Altenbergbuch. Hg. von Egon Friedell. Leipzig/Wien [u.a.]: Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte 1921
- Peter Altenberg: Der Nachlass. Berlin: S. Fischer 1925
- Peter Altenberg: Nachlese. Wien: Lányi 1930
- Peter Altenberg: Geleit. In: Die Frau im Jahrhundert der Energie 1813–1913. Berlin: N. Israel 1913 (Album 1913), o.S.
Quellen
- Meldezettel von Peter Altenberg (WStLA, BPD Wien: Historische Meldeunterlagen, K11)
- Wienbibliothek Digital: Partezettel
- Wienbibliothek Digital: Peter Altenberg
- Wienbibliothek im Rathaus: Sammlung Peter Altenberg
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Peter Altenberg
Literatur
- Olga Kronsteiner: Peter Altenberg: Erinnerungskult trotz pädophiler Neigung. In: Der Standard vom 27.02.2021
- Marcel Atze: Porträt von Bertha Lecher, mit rückwärtiger Widmung von Richard Engländer (d.i. Peter Altenberg). Fotografie: Josef Székely. In: 10 Jahre Wienbibliothek im Rathaus. Hg. von Sylvia Mattl-Wurm und Alfred Pfoser. Unter Mitarbeit von Gerhard Murauer. Wien: Metroverlag 2016, S. 164f.
- Markus Kristan/Sylvia Mattl-Wurm/Gerhard Murauer [Hg.]: Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente aus der Wienbibliothek im Rathaus. Wien: Metroverlag 2018
- Simon Ganahl: Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen. Konstanz: konstanz university press 2015
- Gemma Blackshaw: Peter Altenberg: Authoring Madness in Vienna circa 1900. In: Journeys into Madness. Mapping Mental Illness in the Austro-Hungarian empire. Hg. von Gemma Blackshaw / Sabine Wieber. New York / Oxford: Berghahn Books 2012, S. 109–129
- Roland Innerhofer: „Aus den facheusen Complicationen herauskommen“. Peter Altenbergs diätetische Lebensrezepte. In: Roland Innerhofer/Evelyne Polt-Heinzl: Peter Altenberg – prophetischer Asket mit bedenklichen Neigungen. [Vorträge im Wiener Rathaus am 21. Dezember 2009]. Wien: Picus 2011 (Wiener Vorlesungen im Rathaus, 155), S. 43–71
- Evelyne Polt-Heinzl: Peter Altenberg und die zeitgenössische Bildproduktion – Mythen, Legenden und blinde Flecke. In: Roland Innerhofer/Evelyne Polt-Heinzl: Peter Altenberg – prophetischer Asket mit bedenklichen Neigungen. [Vorträge im Wiener Rathaus am 21. Dezember 2009]. Wien: Picus 2011 (Wiener Vorlesungen im Rathaus, 155), S. 11–42
- Peter Altenberg. Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892–1896. Hg. und mit einem Nachwort von Leo Lensing. Göttingen: Wallstein 2009 (Bibliothek Janowitz, 17)
- Ricarda Dick: Peter Altenbergs Bildwelt. Zwei Ansichtskartenalben aus seiner Sammlung. Göttingen: Wallstein 2009
- Peter Altenberg: Semmering 1912. Ein altbekanntes Buch und ein neuentdecktes Photoalbum. Hg. von Leo Lensing. Wien: Eichbauer 2002
- Andrew Barker: Telegrammstil der Seele. Peter Altenberg – Eine Biographie. [aus dem Englischen übersetzt von Marie Therese Pitner]. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1998 [das Original erschien 1996 unter dem Titel "Telegrams from the Soul"]
- Andrew Barker/Leo A. Lensing: Peter Altenberg: Rezept, die Welt zu sehen. Wien: Wilhelm Braumüller Verlag 1995
- Sylvia Mattl-Wurm [Red.]: Interieurs. Wiener Künstlerwohnungen 1830−1930. Wien: Eigenverlag 1990 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 138) (Künstlerwohnung), S. 104 f.
- Werner J. Schweiger: Peter Altenberg. Realien und Marginalien. In: Tino Erben [Red.]: Traum und Wirklichkeit. Wien 1870−1930. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1985 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 93), S. 310 ff.
- Gisela von Wysocki: Peter Altenberg. Bilder und Geschichten des befreiten Lebens. München / Wien [u.a.]: Hanser 1979
- Werner J. Schweiger [Hg.]: Das große Peter Altenberg-Buch. Wien/Hamburg: Zsolnay 1977
- Karl Kraus: Peter Altenberg [Rede am Grabe Peter Altenbergs, 11. Januar 1919]. Wien: Lányi 1919
Peter Altenberg im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.