Joseph Kalmer (eigentlich Josef Kalmus), * 17. August 1898 Nehrybka (Galizien, Polen), † 9. Juli 1959 Wien, Journalist, Lyriker, Übersetzer, Literaturagent.
Biografie
Joseph Kalmer wurde als Josef Kalmus im galizischen Nehrybka geboren und lebte mit seiner deutschsprachigen jüdischen Familie zunächst in Przemyśl und Czernowitz. 1915 erfolgte die Übersiedlung nach Wien, wo Kalmer das K. k. Sophiengymnasium besuchte. Nach der Matura meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger und diente von Juni 1916 bis Mai 1918 als österreichischer Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg. Im November 1918 inskribierte er an der Universität Wien Rechtswissenschaften, brach das Studium aber bald ab.
Ab etwa 1920 arbeitete Kalmer in verschiedenen - vorwiegend sozialistischen - Wiener Zeitungsredaktionen mit (z. B. "Der Abend", "Arbeiterzeitung", "Das neue Wiener Extrablatt", "Der Tag" oder "Welt am Morgen"), verfasste auch für Prager Blätter Beiträge und fungierte sowohl für die beiden letzten Ausgaben der Zeitschrift "Ver!" 1921 wie auch für Lajos Kassáks Zeitschrift "Ma" in deren Wiener Exiljahren zwischen 1921 und 1925 als verantwortlicher Redakteur. Gedichte, Aufsätze und Übersetzungen (insbesondere der französischen und russischen Literatur) erschienen unter anderem auch in den expressionistischen Zeitschriften "Aufschwung", "Renaissance", "Die Gefährten", "Neue Erde", "Die Wage" und "Menorah".
Im Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte gab Joseph Kalmer ab 1920 die Buchreihe "Phalanx. Bibliothek für die Internationale des Geistes" heraus, für die er Leo Tolstois "Die Friedenskonferenz" und Maxim Gorkis "Die silbernen Schließen" ins Deutsche übertrug. Von den geplanten vierzehn Bänden kam neben diesen beiden russischen Übertragungen nur noch Georg Friedrich Nicolais Aufsatzsammlung "Aufruf an die Europäer" (1921) zustande.
1927 erschien in der Verlagsanstalt Dr. Zahn und Dr. Diamant Kalmers einziger selbstständiger Gedichtband "Flug durch die Landschaft". Im gleichen Jahr legte er in diesem Verlag die von ihm übersetzte Anthologie "Europäische Lyrik der Gegenwart 1900–1925" vor, die Gedichte aus "33 Völkern" vereinte und als erster Band einer "Weltanthologie des XX. Jahrhunderts" konzipiert war. Dank für die Unterstützung sprach Kalmer im Vorwort auch Milena Jesenská aus, mit der er etwa über die gemeinsame Bekanntschaft mit ihrem damaligen Ehemann Ernst Pollak sowie Franz Kafka Kontakt pflegte.
Sein Interesse an fremden Sprachen und Kulturen stellte Kalmer in den 1920er- und 1930er-Jahren mit mehreren Übersetzungen europäischer Literatur (besonders aus dem Russischen, aber etwa auch dem Italienischen, Tschechischen und Französischen) sowie mit dem Buch "Abessinien. Afrikas Unruheherd" (1935), das er nach einer Forschungsreise gemeinsam mit Graf Ludwig Huyn verfasste und das ins Norwegische, Polnische, Italienische und von Milena Jesenská ins Tschechische übersetzt wurde, unter Beweis.
Joseph Kalmers letzte Wohnadresse in Wien war die 8., Alser Straße 45, wo er zeitweilig mit Adolf Josef Storfer (1888–1944), Schriftsteller und Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung um Sigmund Freud, zusammenlebte. 1938 flüchtete Kalmer vor den Nationalsozialisten nach Prag und arbeitete mit dem Philosophen Paul Roubiczek an dem Buch "Warrior of God. The Life and Death of John Hus", das erst 1947 in England erscheinen konnte. Kurz vor Kriegsausbruch gelang ihm im August 1939 die Weiterflucht nach Großbritannien. Hier traf er auch wieder auf Theodor Kramer, für dessen Lyrikerstling "Die Gaunerzinke" er sich 1927 in Wien eingesetzt hatte, und lernte Erich Fried kennen, für den er in den folgenden Jahren zum Mentor wurde und dessen erste Gedichtbände "Deutschland" (1944) und "Österreich" (1945 [vordatiert 1946]) begleitete. Seine wichtigste Einnahmequelle im Exil wurde seine Mitarbeit im Ministry of Information und dessen Presseagentur "European Correspondents", die Anti-Nazi-Propaganda vertrieb. Zudem wirkte er etwa an dem mit britischer Unterstützung erscheinenden Wochenblatt "Die Zeitung" und an der Verbandszeitung des Austrian Centre "Zeitspiegel" mit.
1947 erhielt Joseph Kalmer die britische Staatsbürgerschaft und heiratete im gleichen Jahr Erica Ehrenfest (1913–1986), die mit ihm fortan seine 1945 in London gegründete Literaturagentur betrieb, mit der Kalmer in den deutschsprachigen Ländern und insbesondere Österreich schnell wieder Fuß fassen wollte. Neben seinen eigenen Arbeiten und Übersetzungen übernahm er etwa die Vertretung für Kolleginnen und Kollegen aus dem Exil. Dazu zählten z. B. das befreundete Ehepaar Ilse und Arturo Barea, dessen Werk Kalmer fortan ins Deutsche übersetzte, Fritz Brügel und Erich Fried, die Mitglieder des Free Austrian PEN Veza Canetti, Joe Lederer und Hilde Spiel, Freimut Schwarz vom Freien Deutschen Kulturbund oder Kalmers Kollege bei den "European Correspondents", Walter Tschuppik. Dieser Kreis erweiterte sich 1953/1954 um die teilweise bereits nach Österreich zurückgekehrten USA-Exilanten Günther Anders, Peter Fabrizius (Sammelpseudonym für Joseph P. Fabry und Max Kühnel), Elisabeth Freundlich und Berthold Viertel. Außerdem übernahm Kalmer ab 1945 für Otto Basil, mit dem er seit den 1920er-Jahren bekannt war, die Londoner Redaktion der Kulturzeitschrift "Plan" und setzte sich zunehmend auch für österreichische Autorinnen und Autoren wie Marlen Haushofer, Hannelore Valencak, Lida Winiewicz oder amerikanische Übersetzungen von Heimito von Doderers Werk ein.
Als Übersetzer entdeckte Kalmer in Großbritannien die asiatische Literatur für sich und legte neben Übertragungen von kurzen Erzählungen und Gedichten rund zehn Buchpublikationen vor, unter anderem von Xiao Qian, Lu Xun, Mao Dun oder Mulk Raj Anand, die in seinen Übersetzungen zum Teil ebenso wiederaufgelegt oder neu ediert wurden wie die Übertragung von Arturo Bareas autobiografischer Trilogie "Hammer oder Amboß sein", die Kalmer Anfang der 1950er-Jahre unter maßgeblicher Beteiligung von Bareas Frau Ilse übersetzte.
Spätestens ab 1949 reiste Joseph Kalmer mehrfach geschäftlich in die Schweiz, nach Deutschland und Österreich. Für eine dauerhafte Rückkehr nach Österreich blieb die Skepsis des Exilanten zu groß. Im Juli 1959 erlag Joseph Kalmer während einer Geschäftsreise in Wien seinem dritten Herzinfarkt und wurde am jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofes bestattet. Seine Ehefrau Erica führte bis zu ihrem Tod 1986 die Literaturagentur weiter; ihre Mitarbeiterin Irena Marner betrieb die Agentur bis in die 1990er-Jahre.
Die Nachlässe von Joseph und Erica Kalmer mit umfangreichen Materialien zur Literaturagentur Kalmer befinden sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Werke und Übersetzungen (Auswahl)
- Maxim Gorki: Die silbernen Schließen. Ins Deutsche übertragen von Josef Kalmer. Wien: Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte 1920 (Phalanx, 1)
- Leo N. Tolstoi: Die Friedenskonferenz. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Josef Kalmer. Wien, Zürich, Leipzig: Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte 1920 (Phalanx, 2)
- Josef Kalmer: Flug durch die Landschaft. Wien: Verlagsanstalt Dr. Zahn und Dr. Diamant 1927
- Europäische Lyrik der Gegenwart 1900–1925. In Nachdichtungen von Josef Kalmer. Wien: Verlagsanstalt Dr. Zahn und Dr. Diamant 1927 (Weltanthologie des 20. Jahrhunderts, 1)
- Michail Sostschenko: Die Stiefel des Zaren. Erzählungen aus dem heutigen Rußland. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Joseph Kalmer. Berlin: Büchergilde Gutenberg 1930
- Graf Ludwig Huyn und Josef Kalmer: Abessinien. Afrikas Unruhe-Herd. Salzburg, Graz u. a.: Das Bergland-Buch 1935
- Eduard Bass: Klapperzahns Wunderelf. Eine Geschichte für große und für kleine Jungen. Übersetzt von Josef Kalmer / Marianne Wallner. Wien, Leipzig: Verlag Dr. Rolf Passer 1935
- Paul Roubiczek und Joseph Kalmer: Warrior of God. The Life and Death of John Hus. London: Nicholson and Watson 1947
- Hsiao Ch´ien: Die Seidenraupen. Übersetzt von Joseph Kalmer. Zürich: Bühl Verlag 1947
- Chao Shu-Li: Die Lieder des Li Yü-Ts´ai. Eine Erzählung aus dem heutigen China. Übersetzt von Joseph Kalmer. Berlin: Volk & Welt 1950
- Mao Tun: Der Laden der Familie Lin. Übersetzt von Joseph Kalmer. Berlin: Volk und Welt 1953
- Mulk Radsch Anand: Der Unberührbare. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort von Joseph Kalmer. Wien, Stuttgart, Zürich: Europa 1954
- Pa Chin: Garten der Ruhe. Übersetzt von Joseph Kalmer. München: Hanser 1954
- Arturo Barea: Hammer oder Amboß sein. Eine Romantrilogie. Autorisierte Übersetzung aus dem Spanischen von Joseph Kalmer. Wien, Zürich: Europa Verlag 1955
- Lu Hsün: Die Reise ist lang. Gesammelte Erzählungen. Aus dem Chinesischen übersetzt von Joseph Kalmer. Düsseldorf: Progress-Verlag, Johann Fladung G.m.b.H 1955
- Mao Tun: Seidenraupen im Frühling. (Herbstliche Ernte). 2 Erzählungen. Übertragen von Joseph Kalmer und mit einem Nachwort von F. C. Weiskopf. Leipzig: Insel 1955
Literatur
- Tanja Gausterer: "I succeeded in escaping the claws of the Gestapo, Prague". Joseph Kalmers Zwischenexil und seine tschechischen Beziehungen. In: Zwischenwelt 31 (2014), H. 2–3, S. 59–62.
- Raoul David Findeisen: "I am a Sinologist and an Expert …". The Translator Joseph Kalmer as a Propagator of New Literature. In: Studia Orientalia Slovaca, H. 10/11, 2011, S. 389-412 (online abrufbar unter: https://fphil.uniba.sk/fileadmin/fif/katedry_pracoviska/kvas/SOS_10_2/07_17findeisen-form120530.pdf [Stand: 16.08.2024]
- Tanja Gausterer / Volker Kaukoreit: "Danke!" – Erich Fried an Joseph Kalmer. Widmungen zu Beginn einer Schriftstellerkarriere im englischen Exil. In: "Aus meiner Hand dies Buch …". Zum Phänomen der Widmung. Hg. von Volker Kaukoreit u. a. Wien: Turia + Kant 2006 [recte 2007] (Sichtungen 8/9), S. 314–321
- Tanja Gausterer / Volker Kaukoreit: Der Journalist Joseph Kalmer – eine Spurensicherung. Mit einer bibliographischen Dokumentation seiner Beiträge in der antinazistischen Londoner "Zeitung". In: Zwischenwelt 21 (2005), H. 3/4, S. 30–37 u. 87 f.
- Tanja Gausterer: Heimito von Doderer und Joseph Kalmer. Briefliche Zeugnisse zu einer bislang unbekannten Beziehung. In: Sichtungen. Archiv · Bibliothek · Literaturwissenschaft 6/7 (2003/2004). Wien: Turia + Kant 2005, S. 24–30
- Tanja Gausterer: Der Literaturvermittler Joseph Kalmer. Versuch einer Annäherung. Dipl.-Arb. Univ. Wien. Wien 2004
- Volker Kaukoreit: "... und bitte Sie Kalmer und Kramer von mir zu grüßen". Otto Basils Kontakt zum englischen Exil nach 1945 am Beispiel von Joseph Kalmer und Erich Fried. In: Otto Basil und die Literatur um 1945. Tradition – Kontinuität – Neubeginn. Wien: Zsolnay 1998 (Profile, 2)
- Konstantin Kaiser: Nicht fremde Weite. Der Lyriker, Journalist, Übersetzer Joseph Kalmer. In: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst (1987), H. 2, S. 52–59
Joseph Kalmer im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.