Kinderübernahmsstelle (9., Lustkandlgasse 50, Ayrenhoffgasse 9, Sobieskigasse 31).
Kinderarmenfürsorge
Im Rahmen der traditionellen Armenfürsorge wurden unversorgte Kinder und Jugendliche im Findelhaus temporär versorgt und dann Waisenhäusern oder Pflegeeltern zugewiesen. Galten sie als „schwer erziehbar“ wurden sie in „Besserungsanstalten“ eingewiesen. Mit der Schließung des Findelhauses und des städtischen Asyls für verlassene Kinder in 5., Laurenzgasse im Jahr 1910 wurde es jedoch notwendig, Ersatz zu schaffen. Zunächst richtete man im Kloster "Zu den guten Hirtinnen" eine Kinderpflegeanstalt der Stadt Wien in 5., Siebenbrunnengasse 78 unter klösterlicher Leitung ein. Betriebsbeginn war am 1. Juni 1910. Sie entsprach ganz den Anforderungen der „Armenpflege“. Diese Anstalt musste 1918 geschlossen werden. 1920 versuchte man in der Kinderherberge Untermeidling, 1922 durch eine Verlegung des Anstaltsbetriebs in die Baracke "Am Tivoli" Abhilfe zu schaffen.
Kinder-/Jugendfürsorge im Roten Wien
Auf Grund der desaströsen Wirkungen des Ersten Weltkrieges auf die soziale und gesundheitliche Situation vieler Wiener Kinder bildete die Kinder- und Jugendfürsorge von Anfang an einen wichtigen Pfeiler der Sozialpolitik im „Roten Wien“. Seit Oktober 1920 stand diese unter der Leitung des ehemaligen Unterstaatssekretärs für Volksgesundheit Julius Tandler. Als Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen richtete Tandler das „Wohlfahrtsamt“ ein zu dessen Agenden auch die „Jugendfürsorge“ gehörte. Tandler betrachtete diese im Sinn einer qualitativen Bevölkerungspolitik als Investition in „organisches Kapital“. Für Findelkinder oder aber auch Kinder und Jugendliche die als sozial auffällig oder „verwahrlost“ galten oder aus anderen Gründen ohne Eltern/teile aufwuchsen oder den Eltern seitens der Behörden entzogen wurden blieb das Niederösterreichische Zentralkinderheim, welches am 1.1.1922 als Zentralkinderheim der Stadt Wien übernommen wurde, die Anlaufstelle. Ein logistischen Zentrums, welches die aufgenommenen Kinder einige Wochen betreute und Entscheidungen über deren weiteren Aufenthalt traf, fehlte aber.
Die Rolle der KÜST im System der Kinder- und Jugendfürsorge
Am 9. März 1923 beschloss der Gemeinderat über Antrag des Stadtrats für Wohlfahrtswesen Julius Tandler den Bau einer Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse 50 (erbaut 1923-1925 beziehungsweise 1927 von Adolf Stöckl; L-förmige Eckbebauung in Heimatstilformen, Gedenktafel für Julius Tandler mit Porträtrelief, Kinderfiguren von Theodor Igler, Max Krejca und Adolf Pohl). Es war dies die erste derartige Institution in Europa.
Die Kinderübernahmsstelle (Betriebsaufnahme 18. Juni 1925) hatte die Aufgabe, alle der Gemeinde zur Fürsorge übergebenen Säuglinge, Kinder und Jugendlichen aufzunehmen, zu beobachten und für sie weitere Fürsorgemaßnahmen einzuleiten. Die Kinder wurden auf Antrag einer Sprengelfürsorgerin den Eltern oder anderen betreuenden Personen entzogen und in der Übernahmestelle einem fürsorgerischen, psychologischen und ärztlichen Screening unterzogen. Etwa drei Wochen wurden sie in Glasboxen von Psychologinnen wie Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer beobachtet. Auf Basis dieser Beobachtungen wurde eine Entscheidung über das weitere Schicksal der Kinder getroffen und zwar in Form einer Zuweisung in ein Erziehungs- oder Kinderheim, zu einer Pflegefamilie oder durch Rückgabe an die Eltern. Die größte dieser Erziehungsanstalten war das Kinderheim im Schloss Wilhelminenberg. Dieses hatte die Gemeinde Wien 1927 erworben, ebenso wie die ehemalige „Niederösterreichische Landes-Besserungsanstalt“ in Eggenburg.[1]
Das an eugenischen Vorstellungen orientierte Dispositiv der Kinder- und Jugendfürsorge führte zu einem System des „Überwachens und Strafens“. Die Aufgabe der Erziehungsheime war es, die aufgenommenen Kinder im Sinn einer bürgerlichen Normalität zu „korrigieren“. Die Erziehungspraktiken in den Erziehungsheimen der Stadt Wien waren daher durch strikte Überwachung und Repression, teilweise auch durch Gewalt geprägt. Diese wurde während der nationalsozialistischen Periode im Sinn der NS-Rassenbiologie verschärft (bis hin zur Euthanasie), setzte sich aber als Erziehungspraxis auch in der Zweiten Republik bis in die 1980er Jahre bis zu einem gewissen Grad fort.[2]
Von der KÜST zur Kleingruppe
Zwischen 1926 und 1964 wurden 63.000 von insgesamt 158.000 in die Pflege der Gemeinde Wien aufgenommenen Kinder in der Kinderübernahmsstelle betreut. 1964 wurde ein Umbau beschlossen, um eine neue Lösung der Heimsituation durch Schaffung familienähnliche Kleingruppen zu finden. Hatte die Kinderübernahmsstelle ursprünglich vor allem medizinische Aufgaben, so lagen nunmehr die Akzente auf der psychologischen Betreuung. Am 22. November 1965 wurde die renovierte Kinderübernahmsstelle wiedereröffnet und Julius-Tandler-Heim benannt (Gedenktafel). Dieses wurde am 13. Juni 1985 mit in diesem Bereich untergebrachten Einrichtungen des Jugendamts zum Julius-Tandler-Familienzentrum der Stadt Wien vereinigt. Dieses wurde 1998 im Zug der "Heimreform" geschlossen. Am Standort wurde das Referat für Adoptiv- und Pflegekinder der Magistratsabteilung 11 angesiedelt.
Videos
Eine Stadt sorgt für ihre Kinder (1963), Zitat: WStLA, Filmarchiv der media wien, 218 (Ausschnitt: 01:08,20; 03:13,00)
Quellen
- Wienbibliothek Digital: Wiener Magistrat (Hg.): Die Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien. Wien: Thalia 1927
- Wienbibliothek Digital: Wiener Magistrat (Hg.): Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien, im 9. Bezirk Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. Wien: Chwala's Druck 1925
- Wien Museum Online Sammlung: hochauflösende Abbildungen zur Kinderübernahmestelle
Literatur
- Reinhard Sieder – Andrea Smioski: Der Kindheit beraubt. Gewalt in Erziehungsheimen der Stadt Wien. Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2012
- Clarissa Rudolph, Gerhard Benetka, Zur Geschichte des Wiener Jugendamts. In: Ernst Berger (Hg.): Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialveraltung, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2007, S. 47-88.
- Reinhard Sieder: Das Dispositiv der Fürsorgeerziehung in Wien. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25 (2014), S. 156-193.
- Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien im 9. Bezirk (ohne Jahr)
- Das neue Wien. Städtewerk. Hg. unter offizieller Mitwirkung der Gemeinde Wien. Wien: Elbemühl 1926-1928. Band 2, S. 457 ff.
- Helmut Weihsmann: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919-1934. Wien: Promedia 1985, S. 292
- Bundesdenkmalamt [Hg.]: Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Wien. II. bis IX. und XX. Bezirk. Wien 1993, S. 397
- Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer. Band 3/1: Wien. 1.-12. Bezirk. Salzburg: Residenz-Verlag 1990, S. 249