Gloriettekino
48° 11' 33.42" N, 16° 18' 58.22" E zur Karte im Wien Kulturgut
Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 eröffnete die aus Berlin stammende Taxiunternehmerin Jenny (Eugenie) Hilbert-Heisler (auch: Heissler, * 1854) in den bis dahin als Wirtshaus genutzten Räumen eines 1911 erbauten Eckhauses ihr eigenes Kino an der Ecke Johnstraße 1/3 und Linzer Straße 2 und nannte es – da das Kino in direkter Sichtachse zum Schloss Schönbrunn lag – „Gloriettekino“.
Jenny Heisler war zugleich Besitzerin und Inhaberin der Lizenz beziehungsweise ab 1926 der Konzession zur Führung des Kinos. Mitbegründer und Mitbesitzer bis zu dessen Tod im Jahr 1922 war Johann Ranftl.
1929 starb Jenny Heisler im Alter von 75 Jahren. Ihr Bruder Eugen Heisler (* 1857), seit 1914 Geschäftsführer des Kinos, suchte nach ihrem Tod um die Übernahme der Konzession an. Eugen Heisler war zu diesem Zeitpunkt bereits knapp 73 Jahre alt, was er in seinem Ansuchen betonte und als Begründung anführte, ihm die Konzession zu erteilen, da „hierin die Aufrechterhaltung meiner Existenz gelegen ist“.
Pächter und damit Betreiber des Unternehmens war bereits ab 1924 jedoch Rudolf Seidl. Seidl ließ 1930 ein Tonfilmanlage einbauen und nannte sich in offiziellen Schreiben des ab diesem Zeitpunkt als „Gloriette Ton-Kino“ geführten Betriebes dessen „Direktor“.
Seidl hatte das Kino 1924 auf zehn Jahre gepachtet. Der Pachtvertrag war jedoch nicht zwischen der damals noch lebenden Jenny Hilbert-Heisler und ihm selbst, sondern zwischen Heisler und Rudolf Seidls Gattin, Adele Seidl (* 1886, geborene Wawel) abgeschlossen worden. Begründet wurde dies später damit, dass „im Zeitpunkte des Vertragsabschlusses Rudolf Seidl Besitzer und Konzessionär des Tivolikinos in Wien 13., Winckelmannstraße 2, war“. Wie aus den Unterlagen des Jahres 1935 deutlich wird, hatte hingegen Jenny Heislers Bruder und Erbe, Eugen Heisler, so Seidl, nie etwas mit dem laufenden Kinobetrieb zu tun gehabt und würde diesen sogar unnotwendigerweise „stören“.
Rudolf Seidl, 1884 in Brünn geborener Kinobetreiber, musste jedoch 1930 mit seinem seit 1917 gepachteten „Tivoli Kino“ in ein „Ausgleichsverfahren gehen“ und das Kino schließlich verkaufen, behielt sich jedoch Gelder ein, die er eigentlich als Abgaben der Lustbarkeitssteuer hätte bezahlen müssen. Seidl argumentierte die einbehaltenen Kosten mit der Umstellung auf den Tonfilm, die er zu tragen gehabt hätte.
1937 kam er neuerlich zu einem längeren Verfahren, da Eugen Heisler, der zu diesem Zeitpunkt bereits 80 Jahre alt war, die Konzession an seine Lebensgefährtin Marianne Ranftl − die Witwe seines 1922 verstorbenen ehemaligen „Freundes“ und Mitarbeiters Johann Ranftl − zu übertragen ansuchte. Diesem Ansuchen trat seinerseits Rudolf Seidl entgegen, der, so die Unterlagen der Verhandlungen, in den Umbau, die Errichtung der Tonanlage und Verbesserungsarbeiten des Kinos sein gesamtes Vermögen investiert hatte.
Wie aus einem den Verhandlungen beigelegten „Gedenkprotokoll“ von 14. Juni 1935 hervorgeht, gehörte die Immobilie selbst Marianne Hocsari, die ihrerseits mit Eugen Heisler, Dr. Egon Hilbert „und auch mit Herrn Rudolf Seidl als Solidarverpflichtenden“ einen Mietvertrag abgeschlossen hatte. Der Mietvertrag war vorerst von 1930 bis 1935 geschlossen worden, 1935 war Egon Hilbert zugunsten Heislers aus dem Mietvertrag ausgeschieden. Darüber hinaus soll Heisler 1934 das seit 1924 bestehende und somit in diesem Jahr auslaufenden zehnjährige Pachtverhältnis von seiner Seite her aufgelöst habe – doch Seidl dies ignoriert haben. 1935 habe Eugen Heisler dann Seidl die Weiterführung der Pacht genehmigt, wenn dieser vor allem in finanzieller Hinsicht eine Reihe von Entgegenkommen garantiere. Schließlich musste auch die Hauseigentümerin selbst, Marianne Mocsari, eingeschaltet werden, die ihrerseits bekanntgab, dass Marianne Ranftl über keinerlei Mietrechte verfüge und auch der einst mit Heisler und Johann Ranftl abgeschlossene Mietvertrag längst gelöscht wäre.
Nachdem nun Heisler wie auch Ranftl mit schweren Vorwürfen konfrontiert wurden, kam es zu einem weiteren mündlichen Aktenvermerk, der auf den Angaben von Herrn Zohles (dem Bruder von Marianne Ranftl) basierte, in dem dieser angab, das Kino sei 1914 von Johann Heisler (!) und Zohles Schwager Johann Ranftl gegründet worden und Ranftl habe bei seinem Ableben gebeten, sich um seine Frau und Söhne – die 1935 in Südamerika lebten – zu kümmern.
„Das Ansuchen des Eugen Heisler um Verleihung der Konzession an Marianne Ranftl wurde ausschließlich aus dem Grunde gemacht, weil Herr Heisler bereits 81 Jahre alt ist und er sich außerdem kränklich fühlt und dem verstorbenen Johann Ranftl gegebene Versprechen, für Frau Ranftl und deren Kinder zu sorgen, entsprechen will. Frau Ranftl ist 59 Jahre alt und ist seit 1914 im Kino tätig und daher bestimmt in der Lage, den Betrieb führen zu können. Im Jahr 1940 bei Ablauf des Pachtvertrages mit Herrn Seidl soll der Sohn Johann Ranftl, der sich derzeit in Argentinien befindet, zurückkehren und das Kino gemeinsam mit seiner Mutter weiterführen“, hieß es in dem Gesprächsprotokoll mit Zohles.
1936 finden sich dann weiterhin Eugen Heisler als Konzessionär und Rudolf Seidl als Pächter in den Unterlagen. Eugen Heislers Konzession wurde schließlich bis Ende 1939 verlängert, Seidls Pachtvertrag lief bis 1940. Die vieldiskutierte und für alle wohl nicht ganz glückliche personelle Konstellation blieb bis 1940 bestehen. In diesem Jahr übertrug Eugen Heisler schließlich das Kino an den bisherigen Pächter Rudolf Seidl gegen eine Rente von 360,- RM monatlich. Eugen Heisler starb 1945.
Am 17. Juni 1938 hieß es in einem Schreiben Rudolf Seidls an das Besondere Stadtamt II: „Endesgefertigter gibt dem besonderen Stadtamt II bekannt, dass seit 10. März 1938 in seinem Betrieb kein Personal-Veränderung vorgenommen wurde. Mit deutschem Gruß, Rudolf Seidl.“ Ab Ende Juni 1938 wurde Seidls Sohn, Rudolf Seidl jun., als dessen Stellvertreter ernannt; am 2. August 1939 starb Rudolf Seidl im Alter von 55 Jahren.
In einem Vergleich, der am 4. Oktober 1940 geschlossen wurde, übertrug Eugen Heisler das Kino an die „Gesellschaft der Erben von Rudolf Heisler“, die aus Adele Seidl sen., Adele Seidl jun. (* 21. November 1916), Rudolf Seidl und Karl Seidl jun., bestand, von denen jede/r 25 Prozent Anteile erhielten. 1940 wurde das Kino in „Gloriette Lichtspiele“ umbenannt, im selben Jahr erhielten Adele Seidl sen., Adele Seidl jun., Karl Seidl und Rudolf Seidl die vorläufige Spielerlaubnis der Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, für das Kino. Von diesen vier Personen galten nach dem Mai 1945 sowohl Rudolf wie auch der seit 1943 vermisste Karl als „illegale Nationalsozialisten“. 1943 erhielt Adele Seidl (jun.) die Konzession für das Kino, die sie bis zum Kriegsende behielt. Auch in diesem Kino wechselten die Vorführerinnen und Vorführer mehrfach aufgrund des Kriegseinsatzes.
Zu Kriegsende 1945 wurden als nunmehrige Besitzer des Kinos Adele Seidl sen., Adele Seidl jun., Rudolf und Karl Seidl zu je 25 Prozent Anteilen genannt. Rudolf und Karl Seidl waren schon vor 1938 illegale Mitglieder der NSDAP gewesen – Rudolf bereits ab 28. August 1929, Karl ab 19. April 1932. Deren Mutter wurde als „nicht der NSDAP angehörig“ eingestuft, Adele Seidl jun. jedoch – vorerst − als Mitglied der NSDAP ab 1938 genannt. Das Kino war demnach als „nazifiziert“ zu werten und wurde per 25. September 1945 unter die öffentliche Verwaltung von Dr. Alfred Migsch gestellt, der in seinem Aktenvermerk zur „Eigentumskontrolle“ der „Alliierten Kommandantur Wien“ von 25. September 1945 festhielt: „Alle Teilhaber Mitglieder der NSDAP, daher im Sinne des Veranstaltungsbetriebsgesetzes v. 27.7.1945 zur Führung eines Kinos nicht geeignet.“ Geschäftsführerin seit April 1945 war Margarete „Grete“ Metzger.
Doch mit Bescheid von 18. Juli 1947 sah die Situation anders aus: Migsch wurde als öffentlicher Verwalter abberufen und dies damit begründet, dass das Ermittlungsverfahren ergeben habe, dass Adele Seidl jun. (wie auch Adele Seidl sen.) „politisch unbelastet“ wären. Zu Rudolf Seidl hieß es darüber hinaus wie folgt: „Rudolf Seidl war Parteimitglied und hat sich auch nach dem Verbotsgesetz 1945 registrieren lassen. Er hat sich während der nationalsozialistischen Zeit für vom Nationalsozialismus verfolgte Personen auf Grund von vorgelegten Bescheinigungen tatkräftig eingesetzt und u. a. auch die Umwandlung mehrerer Todesurteile in Zuchthausstrafen erwirkt und auch diesbezügliche Erklärungen des KZ-Verbandes vorgelegt. Zurzeit ist ein Verfahren um seine Entregistrierung im Zuge.“
Wie aus einer Entscheidung des Bundesministeriums für Inneres, Beschwerdekommission, von 4. Oktober 1946 hervorgeht, hatte sich im Falle von Adele jun. die Frage ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP wie folgt erklärt: „Die Entscheidung der Einspruchskommission stützte sich auf einen Personalienbogen der Reichskulturkammer vom 1. Dezember 1939, in dem angegeben war, dass Adele Seidl von 1931 bis zum Verbot der BDM und seit 1938 des NSDAP als Mitglied angehört habe bzw. angehöre. Dieser Fragebogen ist allerdings ein gewichtiges Indiz für die Annahme der Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur NSDAP; es ist ihr jedoch gelungen, einen einwandfreien Gegenbeweis gegen diese Annahme zu erbringen. Auf Grund der durchaus glaubwürdigen Angaben ihres Bruder [!] Rudolf Seidl steht fest, dass die Beschwerdeführerin den Personalienbogen vom 1. Dez. 1939 nicht selbst ausgefüllt hat und dass Rudolf Seidl die Angabe, seine Schwester sei seit 1938 Mitglied der NSDAP, wider besseres Wissen gemacht hat, um der Familie das Kino ihres im August verstorbenen Vaters zu erhalten. Durch die Aussage des Rudolf Seidl und des durch die Beschwerdekommission ebenfalls vernommenen Franz Bayer ist ferner erwiesen, dass die Beschwerdeführerin der NSDAP niemals, weder als Mitglied noch als Parteianwärterin, angehört hat.“
In einer späteren „Sachverhaltsdarstellung“ von 1. September 1948 hieß es, die Jahre unter dem NS-Regime zusammenfassend: „Am 13. März 1938 war die Konzession dem Eugen Heisler, Wien 13., verliehen und an Rudolf Seidl, dem verstorbenen Gatten der Konzessionswerberin, verpachtet worden. Die Spielerlaubnis besaßen Adele Seidl sen., Adele Seidl jun., Rudolf Seidl und Karl Seidl als Teilhaber einer Gesellschaft nach bürgerlichem Recht gemeinsam.
Ein von Marianne Heisler als Witwe des am 2. Jänner 1945 verstorbenen Eugen Heisler eingebrachter Rückstellungsantrag wurde von der Rückstellungskommission beim Landesgericht für Zivilrechtssachen abgewiesen. Adele Seidl gab im Zuge des folgenden Verfahrens an, dass Heisler kein Jude gewesen sei und daher nicht von „Arisierung“ gesprochen werden konnte. „Da somit keine Arisierung vorliegt und Frau Adele Seidl sen. als Mitinhaberin der Spielerlaubnis politisch unbelastet ist, hat sie einen Rechtsanspruch im Sinne des § 2, Abs. 2, Veranstaltungsbetriebsgesetz, auf Berücksichtigung ihres am 5.4.1946 eingebrachten Konzessionsansuchens. Das Konzessionsansuchen der ,Kiba‘ kann somit keine Berücksichtigung finden“, hieß es im Bescheid des Magistrats.
Auf der anderen Seite brachte Josef Zohles als Bruder von Marianne Heisler ein, dass die Familie Seidl enge Verbindungen zur ehemaligen Reichsfilmkammer gehabt habe und so auch während des Krieges – unter Übergehung des eigentlichen Konzessionärs Heisler – die Spielgenehmigung erhalten habe. Zohles bezeichnete sich selbst als „echter alter Österreicher“, der von der NSDAP „infolge meines festen Standpunktes zweimal schwer finanziell geschädigt worden“ war und seine politische Unbescholtenheit auch durch Stadtrat Dr. Viktor Matejka nachgewiesen bekommen hätte.
Im Jänner 1946 reichte seinerseits Alfred Metzger, der Ehemann von Grete Metzger, um die Konzession zur Führung des Kinos ein und wies auf seine Tätigkeit in der Widerstandsbewegung „Ostfrei“ hin.
Am Ende der zähen Verhandlungen wurde am 2. September 1948 der damals 62-jährigen Adele Seidl sen. die Konzession für die „Gloriette Lichtspiele“ übertragen. Im April 1949 setzte Seidl ihre Tochter Adele Seidl jun. als Geschäftsführerin ein und begründete diesen Schritt mit ihrem Alter.
In den 1950er-Jahren wurde das Kino erweitert und zu einem Mehrsaalkino, in dem vor allem Western und Krimis (so genannte „Blutopern“) gespielt wurden. Mitte der 1960er-Jahre übernahm die Familie Bespalez den Betrieb, den sie bis zuletzt führte, und etablierte das „Gloriette“ als Kinder- und Familienkino. In den letzten Jahren wurden auch so genannte „Arthouse-Filme“ gezeigt, um dem akuten Publikumsschwund entgegenzuwirken, das ehemalige Zuckerlgeschäft neben dem Kino wurde dazu gemietet und zum „Kino Treff“.
Ende 2012 musste das Kino jedoch geschlossen werden. Zahlreiche Projekte folgten in den letzten Jahren, unter anderem das Konzept für einen Jugend- und Sozialtreffpunkt. Aktuell findet sich dort der Fahrradtreffpunkt mit angeschlossenem Bistro. Auf der Startseite zu seinem Webauftritt heißt es: „Willkommen bei Velobis im ehemaligen Gloriette-Kino, Treffpunkt seit über 100 Jahren!“
Fassungsraum
- 238 (1914)
- 250 (1922)
- 247 (1924)
- 247 (1934)
Siehe auch: Kino
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, A1 – Kinoakten: 39 Gloriette-Kino
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119: A27 - ÖV Kino, K117 Gloriette-Lichtspiele
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 104, A11: 13. Gloriette-Kino
Literatur
- Werner Michael Schwarz: Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934. Wien: Turia & Kant 1992, S. 259 f.