Kinderverschickung

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Abfahrt eines Kindertransports vor dem Rathaus. Juli 1947
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BildunterschriftInformation, die unterhalb des Bildes angezeigt werden soll Abfahrt eines Kindertransports vor dem Rathaus. Juli 1947

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Weltkriege und Kindernot

Während des Ersten Weltkriegs und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren der beiden Weltkriege waren Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und daraus resultierende Unterernährung, Hunger und Mangelerkrankungen weit verbreitet. Besonders betroffen waren davon heranwachsende Kinder und Jugendliche, was sich in den Messungen von Körpergröße und Körpergewicht widerspiegelte. Nach dem Ersten Weltkrieg ergaben Messungen unter Wiener Lehrlingen ein Untergewicht im Vergleich zur Vorkriegszeit von rund 10 Kilogramm und eine Körpergröße die 10 Zentimeter unter der der Vorkriegszeit lag. Besonders verbreitete Mangelerkrankungen unter Kindern und Jugendlichen waren Rachitis und Tuberkulose.

Kinderverschickungen im und nach dem Ersten Weltkrieg

Auf Grund des Hunger und Elends in der Stadt setzten bereits in der Spätphase des Ersten Weltkrieges Bemühungen ein, unterernährte Wiener Kinder zu Landaufenthalten zum Zweck der Verbesserung ihrer Ernährungssituation zu verschicken. Bereits 1917 organisierte der Wiener Gemeinderat Heinrich Löwenstein eine kleinere Kinderverschickung ("Wiener Kinder aufs Land") in die Schweiz.[1]. Im Mai und Juli 1918 wurden rund 72.000 Wiener Schulkinder im Rahmen des Kaiser-Karl-Wohlfahrtswerkes zur Erholung zu westungarischen (d.h.: teilweise burgenländischen) Bauern verschickt. Von diesen Kindern waren über 90% mehr oder weniger unterernährt. Der positive Effekt des Sommeraufenthalts ging allerdings bereits nach wenigen Wochen wieder verloren.[2]

Nach Ende des Ersten Weltkrieges setzten nach dem Hungerwinter 1918/19 und den erschreckenden Berichten in der internationalen Presse über die Kindernot in Wien im Folgejahr erste Kinderhilfsaktionen ("Save the Child", "Rädda Barnen") ein und auch Kinderverschickungen dienten diesem Zweck. 1919 wurden 13.366 Wiener Kinder in die Schweiz, Südtirol, Italien und Süddeutschland zu mehrwöchigen Erholungsaufenthalten verschickt. Ab 1920 unterstützten auch die Alliierten entsprechende Aktionen. Insgesamt wurden 1918-1924 312.255 Wiener Kinder in das Ausland zu Pflegeeltern verschickt, nunmehr auch zu längeren Erholungsaufenthalten von zum Teil mehreren Jahren. Die Hauptaufnahmeländer waren die Niederlande (65.289), Ungarn (64.805), die Schweiz (62.136), die Tschechoslowakei (35.127), Deutschland (26.065) und Dänemark (21.285). Aber auch nach Schweden, Norwegen, Italien, Jugoslawien, Rumänien und einige andere europäische Länder kamen Verschickungen zu Stande. Organisiert wurden sie zumeist von nichtstaatlichen karitativen Organisationen. Die Kinder wurden durch Schulen, Fürsorgestellen oder Eltern angemeldet, auf ihre Bedürftigkeit und ihren medizinischen Zustand untersucht und in der Folge Pflegeeltern zugeteilt. Sie erhielten eine Tafel um den Hals mit ihren Namen und dem der zukünftigen Pflegeltern sowie deren Adresse. Auf Grund des großen Hungers erhielten sie schon während der Bahnreise in das Zielland Verpflegung. Viele Kinder wurden mehrmals von den Pflegefamilien eingeladen. Dadurch entstanden lebenslange Freundschaften und "familiäre" Bindungen. Viele Kinder sprachen nach ihrer Rückkehr nur noch wenig deutsch und waren ihren Eltern entfremdet.

Kinderverschickungen während der NS-Zeit

500 Kinder fahren mit dem Zug nach Thüringen im Rahmen der Kinderlandverschickung; Abschied am Bahnhof (29. Jänner 1943).

Obwohl die Versorgungslage der heimischen Bevölkerung nicht zuletzt durch die Ausplünderung besetzter Gebiete durch das nationalsozialistische Deutschland sich im Zweiten Weltkrieg bis gegen Kriegsende günstiger gestaltete, wiesen Kinder und Jugendliche aus den urbanen Zonen Ernährungsdefizite auf. Vor allem aber sorgten ab 1944 Bombenangriffe für eine dauerhafte Bedrohungslage. Das Regime versuchte daher über die sogenannte (erweiterte) Kinderlandverschickung (KLV), die Situation zu verbessern oder zumindest der Bevölkerung zu suggerieren, dass es sich um die neue "arische" Generation kümmern würde. Ab September 1940 wurden vor allem Kinder aus deutschen Städten in ländliche Regionen gebracht, ab 1943 wurden die Maßnahmen auf unbestimmte Dauer verlängert. Getragen wurden diese Maßnahme von der NSDAP und ihren Untergliederungen, etwa der HJ (für Kinder von 10-14 Jahren), der NSV (für Kinder von 6-10 Jahren). Das Ziel in den KLV-Lagern war - neben dem Schutz der "Zukunft des Reichs" - auch die Indoktrination im nationalsozialistischen Sinn durch die Hitlerjugend. Zusätzlich zu diesen organisierten "Verschickungen" gab es privat organisierte Quartierte bei Verwandten in ländlichen Regionen. Im Zuge des Bombenkriegs kam es verstärkt ab November 1943 zu "erweiterten" Kinderlandverschickungen, die den Charakter von Evakuierungsmaßnahmen hatten und damit auch Wiener Kinder bzw. Schulen eingebunden wurden. Es wurden ganze Schulklassen verlegt, so etwa das Gymnasium in der Rahlgasse nach Prein an der Rax. Es dürften etwa 165 KLV-Lager mit Wiener Kindern existiert haben.[3]

Kinderverschickungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs neuerlich die Versorgung in Wien nahezu zusammenbrach liefen insbesondere ab 1946 erneut Kinderverschickungen an. Zum Teil knüpften die Aktionen auf Organisationen und Persönlichkeiten die bereits nach dem Ersten Weltkrieg in der Kinderhilfe engagiert waren an.[4]. Die hungernden Kinder fanden in der Schweiz, Dänemark, Schweden, Norwegen und Belgien Unterkunft. Manchmal war es diesselbe Familie, die die Kinder ihrer bereits erwachsenen, ehemaligen Pflegekinder aufnahm. Ab 1949 kam es auch zu Kinderverschickungen in die Rechtsdiktaturen in Spanien und Portugal, was von der österreichischen Regierung toleriert, von den jeweiligen Regimen propagandistisch ausgeschlachtet wurde.[5]

Nachgeschichte

Durch Klubs, persönliche Freundschaften, gegenseitige Besuche und Heiraten bestanden in zahlreichen Fällen Kontakte zwischen Kindern und Pflegeeltern und deren Nachkommen weiter. Besonders im Wiener Straßennetz ist die ausländische Kinderhilfe auch über eine Reihe von Straßennamen im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert geblieben:

Literatur:

  • Isabella Matauschek: Lokales Leid - Globale Herausforderung. Die Verschickung österreichischer Kinder nach Dänemark und in die Niederlande im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Wien [u.a.]: Böhlau 2018
  • Andreas Weigl: Mangel - Hunger - Tod. Die Wiener Bevölkerung und die Folgen des Ersten Weltkriegs (Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs B 90; Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1/2014), Wien 2014
  • Susanne H. Knudsen, Wiener Kinder. Kindheit im Schatten des Krieges. Die dänische Kinderhilfe für Österreich nach den beiden Weltkriegen. Odense: Historia 2014
  • Christine Maisel-Schulz: Kinderlandverschickungen österreichischer Kinder nach Spanien in den Mangeljahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Diss. Univ. Wien. Wien 2010
  • Renate Schreiber: "Großmacht in Menschenliebe". Schwedische Kinderhilfe nach dem Ersten Weltkrieg. In: Wiener Geschichtsblätter 64/3 (2009), S. 56-82
  • Renate Schreiber (Hg.): Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-Goldschmidt. Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2007
  • Helmut Engelbrecht: Wien und die sogenannte Kinderlandverschickung. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 57-58 (2002), S. 25-112
  • Oscar Bosshardt: Die Schweizer Hilfsaktion für die hungernde Stadt Wien. Ihre Geschichte und Entwicklung auf schweizerischem und internationalem Boden, sowie ihre wirtschaftliche, politische und ethische Bedeutung. Bern: A. Francke A.G. 1921
  • Friedrich Reischl: Wiens Kinder und Amerika. Die amerikanische Kinderhilfsaktion 1919. Wien: Gerlach & Wiedling 1919
  • Markus Holzweber: „Dürfen wir Ihre Kinder verschicken?“ — Die Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) in Niederösterreich. Darstellung, Rezeption und Widerhall in der NS-Zeit und Zweiten Republik. In: Jahrbuch des Vereins für Landeskunde von NÖ 79 (2013), S. 187-425
  • Markus Holzweber: „Das hättet ihr Euch nicht träumen lassen, daß ich jetzt im Gau Niederdonau bin?“ Die (erweiterte) Kinderlandverschickung in Niederösterreich. In: Studien und Forschungen. In: 1945 – Kindheit im Umbruch. Die Vorträge des 35. Symposiums des NÖ Instituts für Landeskunde, Laa an der Thaya, 6. bis 8. Juli 2015 (2019), S. 149-174

Einzelnachweise

  1. Isabella Matauschek: Lokales Leid - Globale Herausforderung. Die Verschickung österreichischer Kinder nach Dänemark und in die Niederlande im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Wien [u.a.]: Böhlau 2018, S. 68
  2. Andreas Weigl: Mangel - Hunger - Tod. Die Wiener Bevölkerung und die Folgen des Ersten Weltkriegs (Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs B 90; Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1/2014), Wien 2014, S. 20.
  3. Helmut Engelbrecht: Wien und die sogenannte Kinderlandverschickung. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 57-58 (2002), S. 32 f., 49.
  4. Renate Schreiber (Hg.): Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-Goldschmidt. Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2007, S. 263-361
  5. Christine Maisel-Schulz: Kinderlandverschickungen österreichischer Kinder nach Spanien in den Mangeljahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Diss. Univ. Wien. Wien 2010