48° 12' 32.03" N, 16° 21' 23.60" E zur Karte im Wien Kulturgut
Wohnung Boskovits-Wessner (1, Bartensteingasse 9/5). Die Wohnräume der Familie Boskovits-Wessner wurden 1927 von Adolf Loos für die Familie adaptiert. Heute werden sie als Ausstellungs- und Veranstaltungsräume der Wienbibliothek im Rathaus genutzt. Einen besonderen Höhepunkt stellt das von Adolf Loos gestaltete und gut erhaltene Speisezimmer dar.
Adaptierung für die Familie Boskovits-Wessner (1927)
Im Herbst 1927 bezogen der Industrielle Friedrich Boskovits, seine Frau Charlotte, die gemeinsame Tochter Alice und deren Ehemann Hans-Otto Wessner sowie deren Sohn Friedrich eine großzügige Wohnung im Mezzanin des in den Jahren 1881/1882 nach Plänen des Architekten Ludwig Tischler im Rathausviertel errichteten Wohnhauses. Die Familie hatte zuvor in einer Wohnung in der Frankgasse 1 gelebt, die sie sich um 1907 von Adolf Loos einrichten hatte lassen und in die Muriel Gardiner-Buttinger als Nachmieterin einziehen sollte. Bei der Übersiedlung in das neue Domizil in die Bartensteingasse wurden zahlreiche mobile Einrichtungsgegenstände der bisherigen, kleineren Wohnung übertragen, darunter die um 1907 bei Adolf Loos bestellten Speisezimmermöbel.
Um die Wohnräume für zwei Familien zu adaptieren, wurden ab Frühsommer 1927 umfangreiche Renovierungs- und Umbauarbeiten vorgenommen, welche die damalige Eigentümerin Auguste Czermak-Jung dem Unternehmer Friedrich Boskovits als Mieter gestattet hatte. Insbesondere wurden die Stuckplafonds ausgebessert, nicht tragende Innenwände umgelegt, eine Decke im Speisezimmer abgehängt, Durchgänge verlegt bzw. abgemauert. Die Rolle, die Adolf Loos nach Abschluss des Auftrages für die Frankgasse um 1907 für die Familie Boskovits noch gespielt hatte, war lange Zeit ungeklärt. 2018 wurden im Rahmen der Forschungen am Teilnachlass Adolf Loos in der Wienbibliothek im Rathaus zwei Korrespondenzstücke aus den Jahren 1920/21 von Elsie Altmann-Loos an ihren Mann aufgefunden, aus welchen hervorgeht, dass Loos zu Friedrich Boskovits Kontakt hatte und immer wieder als Berater in Einrichtungsfragen fungiert haben dürfte. Da die Übersiedlung in die Zeit von Loos‘ langjährigem Frankreichaufenthalt fiel, der erst 1928 endete, können persönliche Kontakte nur bei sporadischen Wienbesuchen stattgefunden haben. Die Pläne der bewilligungspflichtigen Umbauarbeiten sind sämtlich von einem Baumeister, nicht jedoch durch die Baukanzlei Loos angefertigt worden.
Die Wohnräume der Familie Boskovits-Wessner lagen entlang der Bartenstein- bzw. Stadiongasse und bestanden aus zwei Schlafzimmern, einem Damensalon (dem Wohnzimmer von Charlotte Boskovits), einem Herrenzimmer und einem Speisezimmer. Als Kinderzimmer bzw. Kinderfräuleinzimmer diente ein gegen die Bartensteingasse gelegenes Kabinett. Die Wirtschaftsräume, umfassend Herrendienerzimmer, Küche, Kabinett der Köchin, Badezimmer und Toiletten, waren hofseitig gelegen und über einen Wirtschaftsgang erreichbar. Sie verfügten über eine Pawlatschenstiege und hatten somit einen vom Wohnungseingang getrennten Zugang. Wie für Gebäude dieser Zeit typisch, verfügten die Wirtschaftsbereiche über Stichkappengewölbe, die herrschaftlichen Wohnräume dagegen über ebene Stuckplafonds.
Friedrich Boskovits besaß eine namhafte Kunstsammlung. Eine Versicherungspolizze aus dem Jahr 1934 listet neben wertvollem Mobiliar im Stil Louis XVI. Kunstwerke von Georg Raphael Donner, Martin Johann Schmidt sowie mehrere niederländische Meister auf. Diese zum Großteil schon in der Frankgasse vorhandenen Kunstwerke wurden in die neue Wohnung übertragen und auf die repräsentativen Wohnräume verteilt.
Die Übersiedlung des Speisezimmers, welches nach Loos‘ Entwürfen bei Friedrich Otto Schmidt in Wien hergestellt worden war, war von erheblichem Aufwand begleitet. Teile der politierten Nussholzlambries (auf Mahagoni gebeizt) wurden aus der Frankgasse übertragen, andere Teile sind dort verblieben. Bei der Anpassung an die neuen Maße wurde die Firma DEA Möbel Ges.m.b.H herangezogen, die auch die fehlenden Teile ergänzte.
Ebenfalls übertragen wurde der Stuckfries, der wie schon in der Frankgasse wieder über den Lambries im Speisezimmer angebracht wurde. Es handelt sich dabei um ein industriell gefertigtes Fries, welches einen thiasos, einen dionysischen Festzug, zeigt. Modell stand eine spätantike Vase, die um 1773 bei der Ausgrabung der Villa des römischen Kaisers Antoninus Pius in Lanuvium gefunden wurde. Den gleichen Stuckfries verwendete Adolf Loos im Marmorsaal des Schlosses von Victor von Bauer in Brünn. Der Fries wurde von der Baufirma Burian & Sohn in der Frankgasse abgenommen und in der Bartensteingasse über dem bestehenden Stuckgesimse montiert. Da das Speisezimmer durch Niederlegen einer Wand, die ein kleines Boudoir zum Schlafzimmer hin abgegrenzt hatte, um eine Fensterachse vergrößert worden war, ergaben sich im Bereich der Zimmerdecke unterschiedliche Deckengestaltungen. Zudem hätte der reich profilierte Stuckplafond sich gestalterisch schlecht mit dem Stuckfries von Adolf Loos vereinen lassen, da Loos in solchen Fällen eine glatte Decke einsetzte. So wurde auch in diesem Fall durch Abhängen einer Gipsdecke unterhalb des bestehenden Plafonds aus dem Jahr 1883 eine solche einheitliche und glatte Fläche geschaffen. Die Wiener Firma Bert Kauder wurde mit der Übertragung der Öfen aus der Frankgasse beauftragt. Die Kaminverkleidung aus marokkanischem Onyx dürfte schon in der zurückgelassenen Wohnung zum Bestand des Speisezimmers gehört haben und wurde daher auch an der neuen Adresse in diesem Raum aufgestellt.
Ein weiterer Eingriff war im Bereich des Zugangs vom Herrenzimmer ins Speisezimmer erforderlich gewesen: Der bestehende Türrahmen war in der Wand nicht zentriert, sodass das Zimmer etwas außermittig betreten werden musste. Das Speisezimmerarrangement von Adolf Loos war jedoch von Anfang an auf eine strenge Symmetrie angelegt, welche ein seitliches Betreten des Raumes schon allein aus ästhetischen Gründen nicht vorsah. Dieses Prinzip wurde auch in der neuen Wohnung durch mittiges Einsetzen des Durchganges gewahrt.
Großer Aufwand wurde auch bei der Adaptierung des angrenzenden Schlafzimmers von Friedrich Boskovits betrieben. So wurde für die Aufstellung eines historischen Tonofens im Empirestil eine halbrunde Nische in die Wand gearbeitet und, da vor Ort kein Kaminzug vorhanden war, durch die Wand eine Potterie auf den dahinterliegenden Wirtschaftsgang zum nächsten Rauchfang gelegt.
Friedrich Boskovits hatte abgesehen vom Mobiliar auch vorhandene Wandbespannungen und Bodenbeläge aus der Frankgasse übertragen und nach Ausbesserungsarbeiten wieder verwenden lassen. Für die Überholung der historischen Möbel in den Wohnräumen bediente sich Boskovits wiederum der Firma Friedrich Otto Schmidt, die Schlafzimmermöbel und jene der Wirtschaftsräume wurden von der Firma Staf in Stand gesetzt. Nicht angetastet wurden die historistischen Stuckplafonds sowie die bestehenden Holzvertäfelungen in den Wohnräumen sowie im Foyer. Hier kam es lediglich zu Ausbesserungs-, Reinigungs- und Malerarbeiten.
Übersiedlung am Rand der Zeitgeschichte
Die Übersiedlung der Familie Boskovits-Wessner sowie die Adaptierungsarbeiten fallen zeitlich mit einem historisch bedeutsamen Ereignis zusammen, welches sich in unmittelbarer Nachbarschaft zutrug: Als am 15. Juli 1927 in Zusammenhang mit der Julirevolte der Justizpalast in Flammen aufging, drangen die aufgebrachten Demonstrierenden auch in das Rathausviertel vor bzw. wurden diese von der Polizei dorthin zurückgedrängt. Im Haus Bartensteingasse 9 hatten die Bewohner verwundete Polizisten in Sicherheit gebracht, woraufhin die aufgebrachte Menge versuchte, das Tor aufzubrechen. Als dies misslang, wurden offensichtlich vor Ort befindliche hölzerne Umzugskisten vor der Türe aufgestapelt und in Brand gesteckt. Es könnte sich dabei um Eigentum von Familie Boskovits gehandelt haben. Quelle dieser Begebenheit ist ein Bericht samt Fotografie, den Polizeipräsident Schober in seinem Weißbuch zur Rechtfertigung des Schießbefehles publizierte, mit welchem er die Revolte gewaltsam niederschlug.
Adaptierung für die Musiksammlung der Wienbibliothek im Rathaus (1989-1991) und Musealisierung (2013)
Die Nachkommen von Friedrich und Charlotte Boskovits nutzten die Wohnung bis in die Mitte der 1980er Jahre. Anschließend wurde über Initiative von Bürgermeister Helmut Zilk und Kulturstadträtin Ursula Pasterk die Wohnung in dem inzwischen in Gemeindebesitz befindlichen und als Amtshaus adaptieren Gebäude saniert und für Zwecke der Musiksammlung der damaligen Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute Wienbibliothek im Rathaus) adaptiert. Die architektonische Leitung wurde Burkhardt Rukschcio anvertraut, der sich durch die Sanierung des Loos-Hauses auf dem Michaelerplatz, der Loos-Bar sowie durch die Aufarbeitung des Adolf-Loos-Nachlasses in der Albertina um die Bewahrung und Erforschung des Werkes von Adolf Loos verdient gemacht hatte. Von 1991 bis 2013 fand der Lesebetrieb der Musiksammlung in diesen Räumen statt. Unter der Direktion von Sylvia Mattl-Wurm kam es zu einer erneuten Beforschung der Räumlichkeiten, welche in eine Dauerausstellung zur Wohnungsgeschichte und zu Adolf Loos sowie in eine wissenschaftliche Publikation mündete. Aufgrund der architektonischen Besonderheiten wurden 2013 die nunmehr musealisierten Räume für Veranstaltungen und Wechselausstellungen öffentlich zugänglich gemacht und die Benützung der Musikalien in den Lesesaal im Rathaus verlegt.
Quellen
- Brief von Elsie Altmann-Loos an Adolf Loos, 26.07.1921, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Schriftlicher Teilnachlass Adolf Loos, ZPH 1442, 6.1.24
- Brief von Elsie Altmann-Loos an Adolf Loos, 09.07.]1921?], Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Schriftlicher Teilnachlass Adolf Loos, ZPH 1442, 6.1.58
- Rechnung der Firma DEA Ges.m.b.H., Wien, 10.10.1927; Wienbibliothek im Rathaus, Konvolut zum Umbau der Wohnung Bartensteingasse 9/5
- Kostenvoranschlag der Firma Franz Burian (Bauunternehmung), Wien, 14.06.1927, Wienbibliothek im Rathaus, Konvolut zum Umbau der Wohnung Bartensteingasse 9/5
- Rechnung der Firma Bert Kauder, Wien, 03.08.1927, Wienbibliothek im Rathaus, Konvolut zum Umbau der Wohnung Bartensteingasse 9/5
- Rechnung der Firma DEA Ges.m.b.H., Wien, 07.10.1927, Wienbibliothek im Rathaus, Konvolut zum Umbau der Wohnung Bartensteingasse 9/5
- Das wahre Gesicht der Wiener Schreckenstage. Wo sind die Schuldigen? Eine Darstellung der Wiener Juli-Revolte auf Grund der amtlichen Berichte. Wien : Verl. Austria Doll 1927, Bildanhang
Literatur
- Jindřich Chatrný / Dagmar Černoušková / Jana Kořinková [Hg.]: Evropan Adolf Loos. Nejen brněské stopy-Adolf Loos- His Legacy in Brno and Beyond. Brno: Muzeum města Brna 2020, S. 387 f.
- Sylvia Mattl-Wurm [Hg.]: "Jeder sei sein eigener Dekorateur." Zur Geschichte der Loos-Räume in Wien I., Bartensteingasse 9. Wien: Metroverlag 2013
- Herwig Würtz [Hg.]: Zur Eröfffnung der neuen Musiksammlung. Wien: Eigenverlag der Wiener Stadt- und Landesbibliothek 1991