NS-Medizin

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Daten zum Eintrag
Datum vonDatum (oder Jahr) von 12. März 1938
Datum bisDatum (oder Jahr) bis 11. April 1945
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Letzte Änderung am 8.10.2021 durch WIEN1.lanm08wen

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NS-Ideologie und Medizin

Die nationalsozialistische Ideologie propagierte die Homogenisierung der "Volksgemeinschaft" unter dem Primat der “Rassenhygiene” und vorgeblicher erbbiologischer Kriterien. Im Sinne dieser Ideologie stand ein politisiertes Gesundheitswesen und eine rassenbiologisch orientierte medizinische Forschung und Praxis im Dienst einer selektiven Bevölkerungspolitik. Dem Gesundheitswesen kam dabei die Aufgabe zu, die Reproduktion einer vorgeblich erbbiologisch gesunden "arischen" Mehrheitsbevölkerung zu fördern und der übrigen, diskriminierten Bevölkerung zu verhindern oder zumindest einzuschränken.

Organisatorische Maßnahmen

Nach dem "Anschluss" wurde Ärzten, die nach Definition der Nürnberger Rassengesetze als jüdisch" eingestuft wurden, die weitere Ausübung ihres Berufes verboten. Infolge dieser Maßnahme ging die Zahl der in Wien ordinierenden Ärzte drastisch von etwa 4.900 auf 1.700 zurück. Bis Jänner 1940 gelang 55 Prozent der jüdischen Ärzte die Flucht in das Ausland. Von den vom Regime Verfolgten dürfte insgesamt etwa 3.000 die Flucht ins Ausland gelungen sein.[1] Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung des Berufsverbots spielte der Neurologe und Psychiater Dr. Otto Reisch, der ab 15. März 1938 in den Dienst der Stadt Wien als "Fachberater in ärztlichen Angelegenheiten" getreten war und später, von Juli 1939 bis März 1940, die Leitung der Gesundheitsagenden in der Stadtverwaltung innehatte.[2] Eine Ausnahme bildete lediglich eine kleine Zahl von "Krankenbehandlern", die die jüdische Bevölkerung, soweit sie nicht schon vertrieben oder ermordet worden war, versorgen sollten. Am 1. Oktober 1938 waren es 368. In die führenden Positionen des Gesundheitswesens rückten Mediziner mit ausgeprägt nationalsozialistischer Grundhaltung. Innerhalb der kommunalen Verwaltungsstruktur wanderten mit 1. April 1939 die Agenden der Schwangerenberatung und Säuglings- und Kleinkinderfürsorge vom Jugendamt in das Gesundheitsamt. Noch unter Reisch wurde eine Abteilung für "Erb- und Rassenpflege" im Gesundheitsamt eingerichtet. Unter der Leitung des SS-Arztes Dr. Arend Lang wurde ab Februar die "erbbiologische Bestandsaufnahme" in Form einer Kartei begonnen. Bis März 1944 waren in der Kartei rund 767.000 Personen mit Geburtsort Wien erfasst, etwa 40 Prozent davon auf Basis ärztlicher Untersuchungen in den Bezirksgesundheitsämtern.[3] Das anthropologische Referat der Abteilung leitete Dr. Werner Pendl. Er erstellte erbbiologische Gutachten zu "Mischlingen" im Sinne der NS-Rassenidelogie. Der aus dem "Altreich" berufene Dr. Hermann Vellguth war ab Dezember 1938 mit der Neuorganisation der Gesundheitsämter betraut. Das Gesundheitswesen wurde im Sinne einer "Erbgesundheitspolitik" straff zentralisiert. Bis 1941 wurden achte neue Bezirksgesundheitsämter geschaffen, die dem Hauptgesundheitsamt unterstanden. Der rasch vollzogene Ausbau der Mutterberatungsstellen, die von 35 auf 72 und unter Einbeziehung staatlich übernommener privater Beratungsstellen auf rund 100 erhöht wurde, diente der vollen Kontrolle von Schwangerschaft und Geburt. Die wichtigsten Aufgaben der Gesundheitsämter bestanden in der Erb- und Rassenpflege, dem "Gesundheitsschutz" (sanitätspolizeiliche Maßnahmen) und der Gesundheitsfürsorge (Schwangerenberatung, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge) für die "Volksgemeinschaft", schloss also positive Maßnahmen für vom Regime diskriminierte Bevölkerungsteile (rassisch Verfolgte, "politisch Unzuverlässige", "Schwachsinnige") aus.

Von den "arisierten" jüdischen Einrichtungen gelangten die Nervenanstalten "Rosenhügel" und "Maria-Theresien-Schlössel", bis dahin im Besitz der vom Regime aufgelösten Nathaniel Freiherr von Rothschild'sche Stiftung für Nervenkranke in Wien waren, einschließlich des Stiftungsvermögens gegen Zahlung einer "Aufbauumlage" in den Besitz der Stadt Wien.

Zwischen "Mutterkreuz" und Zwangssterilisationen

Gesetzliche Grundlage für Zwangsmaßnahmen zur Verhinderung unerwünschter Geburten bildeten das Ehegesundheitsgesetz und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, welche am 1. Jänner 1940 in der "Ostmark" in Kraft traten. Im Sinne der Rassenideologie erhielten Familien mit zu fördernden Schwangerschaften und Geburten Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen. "Arische" Frauen mit einer Kinderzahl von fünf und mehr Kindern erhielten das "Mutterkreuz". Wenn Erbkrankheiten bei Blutsverwandten diagnostiziert wurden oder "politische Unzuverlässigkeit" konstatiert wurde, entfielen nicht nur diese Förderungen, sondern die betroffenen Frauen wurden mehr oder minder zu Schwangerschaftsabbrüchen gezwungen. Trotz dieser Maßnahmen dürften einige Tausend Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Wien zur Welt gekommen sein. Sie wurden in Säuglingsheimen untergebracht, wobei die Sterblichkeit durch bewusste Unterversorgung sehr hoch war. Im Besonderen galt das für die ab 1940 wachsende Zahl von Zwangsarbeiterinnen russischer und polnischer Herkunft. Zur rassenbiologischen Trennung der Wiener Bevölkerung wurde eine "Erbkartei" angelegt. Die entsprechenden Informationen lieferten Fürsorgerinnen ("Volkspflegerinnen") und Amtsärzte. Während erstere über den Verbindungsdienst zu den Entbindungsanstalten, der Anstaltenfürsorge in den Krankenanstalten und als Fürsorgerinnen in den Anstalten für Geistes- und Nervenkranke viele Erstinformationen über "erbbiologische Verhältnisse" lieferten, kam letzteren eine Schlüsselrolle bei verordneten Zwangssterilisierungen zu, die in der zweiten Jahreshälfte 1940 einsetzten. In Wien dürften etwa 2.000 Zwangssterilisierungen durchgeführt worden sein. Sie führten auch zu zahlreichen Todesopfern in erster Linie unter Frauen. "Medizinisch" begründet wurden die Sterilisierungen zum größeren Teil mit den Diagnosen "Schwachsinn", "Schizophrenie" und "Epilepsie".

Eine besondere Rolle kam im Rahmen der NS-Verbrechen dem Euthanasieprogramm "Aktion T4" zu. Im Rahmen dieser im Juni 1940 gestarteten Aktion wurden tausende Psychiatriepatientinnen und -patienten der städtischen Anstalt Am Steinhof und Ybbs in Vernichtungszentren, besonders im oberösterreichischen Hartheim, deportiert. Geleitet wurde die Aktion in Wien vom Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Dr. Erwin Jekelius. Nach dem Ende der Aktion T4 Ende August 1941 verlagerte sich die systematische Ermordung psychisch Kranker und Personen mit geistiger Behinderung in die betreffenden Nervenheilanstalten in Wien.

Schon seit August 1939 bis Kriegsende wurde vom Regime die Kindereuthanasie betrieben. Auf Basis von Meldungen von Hebammen und Ärzten in den Geburtskliniken oder aber auch aus der Kinderübernahmestelle entschieden Amtsärzte beziehungsweise ein sogenannter "Reichsausschuß" über die Einweisung von Kindern in die Kindereuthanasieanstalt Am Spiegelgrund. Dessen Leiter war von Juli 1940 bis Ende 1941 Dr. Jekelius. Diese Anstalt wurde durch den infolge der Übersiedlung der Schulkinderbeobachtungsstation im Zentralkinderheim freigewordenen Räumlichkeiten eingerichtet. Hauptzuträger der dort geübten Selektions- und Tötungspraxis war die Kinderübernahmestelle der Stadt Wien, die von der NS-Gemeindeführung zur Vorbereitung der Kindereuthanasie umfunktioniert wurde. Ende 1942 kam es auf Druck der Hitlerjugend zu einer Trennung in eine "Nervenklinik für Kinder", die der Euthanasie diente, und einer Erziehungsanstalt für Jugendliche, die als "Korrektionsanstalt" konzipiert war, wobei mit brutalen Methoden wie "Strafinjektionen" seitens der Anstaltsleitung vorgegangen wurde. In der "Nervenklinik für Kinder" diente die "Säuglingsabteilung" unter der Leitung von Dr. Heinrich Gross und Dr. Marianne Türk der Euthanasie durch medikamentöse Tötung. In der Abteilung, in der nicht nur Säuglinge, sondern besonders auch Kinder verschiedener Altersstufen ermordet wurden, fanden auch umfangreiche menschenverachtende medizinische Versuche an den Kindern statt (unter anderem: Pneumencephalographien). Insgesamt sind 789 Todesopfer an dieser Abteilung dokumentiert.

Verfolgung "Asozialer"

Eine besondere Ebene der repressiven nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik bildete die Verfolgung "Asozialer". Auf Basis von Meldungen der Volkspflegerinnen an die Abteilung für Erb- und Rassenpflege im Hauptgesundheitsamt verfolgte das Regime "Asoziale". Die Kriterien dafür waren weit gestreckt: Kriminalität, "Arbeitsscheue", Prostitution, "Schwachsinn", Erbkrankheiten, Alkoholismus. "Asozialenkommissionen", die von Vertretern der Gesundheitsämter, der NSDAP, der Polizei, der Arbeits- und Wohlfahrtsämter beschickt wurden, konnten Einweisungen in Arbeitslager verfügen. Jene für Männer unterstanden der Gestapo, jene für Frauen und "mindereinsatzfähige" Männer der Gemeinde Wien. Letztere befanden sich im Pavillon 23 der Klinik "Steinhof" im Otto-Wagner-Spital, in Klosterneuburg und der Gänsbachergasse. Während der NS-Herrschaft waren etwa 650 Frauen in diesen Lagern inhaftiert.

Siehe auch: Gedenktafel für die NS-Opfer in der Psychiatrie 'Am Steinhof', Holocaust, Rassenpolitisches Amt der NSDAP, Geschäftseinteilung des Magistrats der Stadt Wien 1939, Geschäftseinteilung des Magistrats der Stadt Wien 1941

Literatur

  • Ingrid Arias-Lukacs: "... Und in Wirklichkeit war es Zufall, dass man am Leben geblieben ist ...". Das Schicksal der jüdischen Ärztinnen in Wien 1938-1945. In: Ingrid Arias [Hg.]: Im Dienste der Volksgesundheit. Frauen – Gesundheitswesen – Nationalsozialismus. Wien: Verlagshaus der Ärzte 2006, S. 31-92
  • Herwig Czech: Erfassung, Selektion und "Ausmerze". Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945. Wien: Deuticke 2003 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 41)
  • Herwig Czech: Geburtenkrieg und Rassenkampf. Medizin, "Rassenhygiene" und selektive Bevölkerungspolitik in Wien 1938 bis 1945. In: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (2005), S. 52-95
  • Katja Geiger: "Im Dienst der Volksgesundheit". Fürsorgerinnen bzw. Volkspflegerinnen im nationalsozialistischen Wien. In: Ingrid Arias [Hg.]: Im Dienste der Volksgesundheit. Frauen – Gesundheitswesen – Nationalsozialismus. Wien: Verlagshaus der Ärzte 2006, S. 177-209
  • Michael Hubenstorf: "Der Wahrheit ins Auge sehen". Die Wiener Medizin und der Nationalsozialismus - 50 Jahre danach (Teil 1). In: Wiener Arzt 5 (1995), S. 14-27

Einzelnachweise

  1. Michael Hubenstorf: "Der Wahrheit ins Auge sehen". Die Wiener Medizin und der Nationalsozialismus - 50 Jahre danach (Teil 1). In: Wiener Arzt 5 (1995), S. 15 f.
  2. Herwig Czech: Erfassung, Selektion und "Ausmerze". Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945. Wien: Deuticke 2003 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 41), S. 13 f.
  3. Herwig Czech: Erfassung, Selektion und "Ausmerze". Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945. Wien: Deuticke 2003 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 41), S. 47.